„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 25. November 2012

Christina von Braun, Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2/2012

(Siehe auch Geld und Sinn“, „Kulturelle ‚Explosion‘“, Geld gegen Gemeinschaft“, Lebenswelt und unsichtbare Hand“, Zur Materialität der Schrift, Der Glaube an nichts, Gemeinsame und konkurrierende Aufmerksamkeit I, Gemeinsame und konkurrierende Aufmerksamkeit II, Entwicklung als Bedeutungslinie und Das Ich im Sumpf)

1. Kastration, Sublimation, Transsubstantiation
2. Schuld, Unschuld und zweite Unschuld
3. Alphabet und Bildung
4. Das Fremde in der Gemeinschaft

In diesem Post will ich mich mit von Brauns zentraler These befassen, daß es die „Substanzlosigkeit“ des nominalistischen Geldes ist, „die dem Geld seine Wirkmacht über die Substanz verleiht.“ (Vgl. Braun 2/2012, S.107) ‚Nominalistisch‘ wird die abstrakte, nicht an materielle Wertmesser wie Gold, Getreide etc. gebundene Form des Geldes genannt, die ihren ‚Wert‘ aus der Autorität des Staates, aus einem religiösen Kult oder aus einer Verbindung dieser beiden Instanzen bezieht. (Vgl. Braun 2/2012, S.19, 27 u.ö.)

Was die Wirkmacht des Geldes über die ‚Substanz‘ bzw. über die Realität betrifft, ist hier vor allem der religiöse Kult wichtig, wie ihn von Braun anhand des aus Tieropfern hervorgehenden griechischen Geldes beschreibt: „Die griechischen Münzen entstanden als Symbole und Ersatz für das geopferte Tier, ... die zusätzlich mit einem (religiös konnotierten) Bild versehen wurden. Die griechischen Münzen hatten keinen materiellen Wert. ... Das nominalistische Geld beruhte also auf seinem Wert als Symbol für das Opfer.“ (Braun 2/2012, S.46)

Das bevorzugte Opfertier der Griechen war der Stier. Schon das semitische Alphabet verwendet als ersten Buchstaben eine stilisierte Abbildung des Stierkopfes. (Vgl. Braun 2/2012, S.59) Der Stier war aus zwei Gründen ein besonders bevorzugtes Opfertier: „... der Stier, ‚das Opfertier schlechthin, befindet sich an der Nahtstelle der beiden Hauptelemente der Nahrung, des Fleisches und des Getreides, da es nicht nur gegessen werden kann, sondern als Arbeitstier auch den Vorgang ermöglicht, der die Grundlage des Getreideanbaus bildet.“ (Braun 2/2012, S.65)

An der Grenze zwischen ‚Nahrung‘ und ‚Arbeit‘ stehend hatte der Stier also eine enorme Bedeutung für die Kulturgeschichte des Menschen. Und von Braun weist in diesem Zusammenhang auf einen hochinteressanten Aspekt hin: „Der Stier ist keineswegs für die Landwirtschaft als Arbeitstier geeignet, das gilt nur für den Ochsen, also den kastrierten Stier ... Die ‚Bezähmung‘ des Stieres entspricht also seiner Kastration, und diese muss als ein besonders gewalttätiger Übergriff an der Natur erfahren worden sein. ... Ist es nicht eher so, dass sich der Preis für den Übergang vom wilden zum domestizierten Tier am Stier (als die ‚große Errungenschaft der Agrarzivilisation‘) besonders deutlich zu erkennen gibt – und dass er eben deshalb zum Opfertier schlechthin wird?“ (Braun 2/2012, S.66)

Der erste Buchstabe des Alphabets ist also wohl eher ein Ochse als ein Stier, und wenn im antiken Griechenland das Geld seinen Wert vor allem aus seiner Fähigkeit gewann, an die Stelle der Opfertiere zu treten, und das bevorzugte Tieropfer der ‚Stier‘ war, der seinen eigentlichen ‚Mehrwert‘ durch Kastration erhielt, so zieht sich die Linie von der Unfruchtbarkeit des Ochsen zur ‚Fruchtbarkeit‘ des Geldes. Mit anderen Worten: das Geld erweist sich als ‚fruchtbar‘, als ‚vermehrungsfähig‘, als zinsfähig, auf der Basis einer verweigerten Fruchtbarkeit realer Körper; also auf der Basis einer Kastration.

Mit diesem als ‚Opfer‘ wahrgenommenen Eingriff in die Natur, der zu einem Wertzuwachs der domestizierten Kreatur führt, die wiederum aufgrund des widernatürlichen Eingriffs zur Versöhnung mit dem Göttlichen diesem geopfert wird – also ein Kreislauf von Schuld und Entschuldung –, harmonisiert das Christentum, das diesen Opfervorgang auf eine göttliche Ebene erhebt: Der unsichtbare Gott implantiert seinen Sohn unter Umgehung sämtlicher sexueller Fortpflanzungsgesetze – ‚Kastration‘ des heiligen Joseph – in eine Leihmutter, um ihn schließlich am Kreuz die Erbschuld des Menschen sühnen zu lassen, was im Endeffekt auf eine Kastration Gottes hinausläuft, wie sie in einigen ikonologischen Darstellungen des Gott-Vaters zum Ausdruck kommt: „... auf seinem Schoß der hingeschiedene Sohn in einer Pose, die ihn wie das Geschlecht Gottes erscheinen lässt, aber in kastrierter, geopferter Gestalt.“ (Braun 2/2012, S.87) – So fließen altgriechische und christliche Kultmotive zur sakralen Beglaubigung des Geldes zusammen, wie sie schließlich auch in der äußeren Form der Hostie zum Ausdruck kommt. (Vgl. Braun 2/2012, S.125f.)

Wichtig ist hier vor allem die mit der Kastration verbundene Unterdrückung sexueller Fruchtbarkeit, an dessen Stelle nun eine geistige Fruchtbarkeit treten kann: „Eine am männlichen Körper exerzierte Kastration wird zur Voraussetzung für geistige Zeugungsfähigkeit.“ (Braun 2/2012, S.87) – Von Braun zufolge geht es dabei nicht um die sexuelle Enthaltsamkeit, sondern um den Verzicht auf Kinder, an deren Stelle jetzt der Zinseszins treten kann: „Der Verzicht auf leibliche Kinder – genau dies, nicht die sexuelle Enthaltsamkeit, ist der Sinn des Zölibats – steigerte den Wunsch nach der Zeugung ‚geistiger Kinder‘: Bücher einerseits und Kapital andererseits.“ (Braun 2/2012, S.154)

Doch scheint mir von Braun die sexuelle Enthaltsamkeit im Vergleich zur Fokussierung auf den unterdrückten Kinderwunsch unnötig abzuwerten. Denn die Unterdrückung der sexuellen Energien, die ja schließlich auch zum ausbleibenden Kindersegen führt, trägt letztlich zu genau jener „Wirkmacht“ auf die Realität bei, die von Braun dem Geld zuspricht. Es ist letztlich die sexuelle Sublimation, die zur ‚Trans-Substantiation‘ führt, also zur Übertragung geistiger Potenz auf Geld und zur schließlichen Rückübertragung der geistigen Potenz des Geldes auf die materielle Ebene. Wenn es nämlich in jüdischen Traditionen, in denen sich „geistige und sexuelle Potenz gegenseitig ergänzen“, zu keiner Übertragung „geistiger Fruchtbarkeit“ auf das Geld kommt (vgl. Braun 2/2012, S.91), dann liegt diese Übertragung im Christentum sicher in einem erheblichen Maße an den unterdrückten sexuellen Energien, die sich ihre Ersatzobjekte suchen.

Zurück zur Substanzlosigkeit des Geldes und seiner damit zusammenhängenden Wirkmacht über die Realität: Jahrhundertelang haben die Alchemisten nach dem „Stein des Weisen“ gesucht, mit dessen Hilfe sie minderwertige Substanzen in Gold verwandeln wollten. Sie hätten eigentlich nur in ihren Geldbeutel zu schauen brauchen und ihn dort in Form des Geldes vorgefunden. So gesehen erfüllt sich im Kapitalismus ein mittelalterlicher Traum. Die Macht der „Substanzlosigkeit“ besteht in der Transsubstantiation, in der alchemistisch anmutenden Umwandelbarkeit der Substanzen selbst! (Vgl. Braun 2/2012, S.240f.) Indem wir bereit sind, Geld gegen beliebige Substanzen (Waren) zu tauschen, überschreiten diese die Grenzlinie zwischen Materie und Geist: Materie wird in eine geistige Potenz sublimiert und schließlich wieder rematerialisiert.

Da wir im Christentum gelernt haben, zu glauben, daß sich geistige Potenz in Form göttlicher Worte – von der Schöpfung bis zu Mariä Empfängnis – materialisieren kann, glauben wir nun auch daran, daß sich Geld wiederum zurückverwandeln läßt in Materie. Sind „Bot und Wein“ „transsubstantiationstauglich“, so ist es nun auch das ohnehin sakral aufgeladene Geld. (Vgl. Braun 2/2012, S.114) Und da das nominalistische Geld, substanzlos wie es ist, an keine materiellen Wertmesser gebunden ist, wird es nun frei, sich in alles zu verwandeln, worauf sich das stets unerfüllt bleibende christliche Begehren richten mag, bis hin zu den heutigen Medizintechniken und Kommunikationstechnologien.

Die „Wirkmacht“ des Geldes auf die Realität ist also in einem an der christlichen Transsubstantiationslehre geschulten Glauben begründet: „Der wichtigste gemeinsame Nenner von Geld und christlicher Lehre besteht jedoch im Glauben: Anders als in der jüdischen Religion, die den Zweifel zulässt und die Exkommunikation nicht kennt, sind Glaubenszweifel für die christliche Religion die tiefste Sünde. Dabei geht die Forderung nach dem blinden Glauben mit Glaubensinhalten einher, die jeglicher Plausibilität entbehren ...“ (Braun 2/2012, S.115)

Erst wenn dieser Glaube zur Substanzlosigkeit des Geldes hinzukommt, kann dessen Substanzlosigkeit – also seine Unabhängigkeit von materiellen Wertmessern – diese unvorstellbare, gottgleiche und letztlich wohl auch unbeherrschbare Gewalt über die materielle Welt gewinnen.

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