„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 28. November 2012

Christina von Braun, Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2/2012

(Siehe auch Geld und Sinn“, „Kulturelle ‚Explosion‘“, Geld gegen Gemeinschaft, Lebenswelt und unsichtbare Hand, Zur Materialität der Schrift, Der Glaube an nichts, Gemeinsame und konkurrierende Aufmerksamkeit I, Gemeinsame und konkurrierende Aufmerksamkeit II, Entwicklung als Bedeutungslinie und Das Ich im Sumpf)

1. Kastration, Sublimation, Transsubstantiation
2. Schuld, Unschuld und zweite Unschuld
3. Alphabet und Bildung
4. Das Fremde in der Gemeinschaft

In diesem Post möchte ich auf einige Parallelen zu früheren Posts in diesem Blog zu sprechen kommen. Helmuth Plessner hat in seinem Buch „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924/2001) eine starre Grenzlinie zwischen der Gemeinschaft und der Gesellschaft gezogen. (Vgl. meine Posts vom 14.11.2010 bis zum 17.11.2010) Das Prinzip der Gemeinschaftsbildung hat er im wesentlichen an der Blutsverwandtschaft und das Prinzip der Gesellschaftsbildung an der Fremdheit festgemacht. Wir haben es also mit der letztlich unüberbrückbaren Differenz zu tun, daß die Gemeinschaft eine Verschmelzungsform, eine Identitätsdiffusion, und die Gesellschaft eine Beziehungsform unter lauter Fremden darstellt.

In Jan Assmanns Schriften zum kulturellen Gedächtnis bin ich auf eine weitere, an Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“ erinnernde Differenz zwischen mündlichen und schriftlichen Kulturen gestoßen. Mündliche Kulturen haben demnach kein Bewußtsein für Geschichte, weil sie kein Gespür für Veränderungen haben. Ich führe das darauf zurück, daß sie sich selbst nicht gegenüber treten können. Auf kultureller Ebene sind sie nicht exzentrisch positioniert. In Begriffen der Lebenswelt: sie haben keinen Außenhorizont. (Vgl. meinen Post vom 05.02.2011) Schriftliche Kulturen hingegen haben ihr Gedächtnis in Form der Schrift externalisiert. In ihren Schriften können sie sich selbst gegenüber treten und so ein Bewußtsein von, ja sogar das Bedürfnis nach Veränderung entwickeln.

In einem weiteren Post vom 08.02.2011 habe ich dann die These aufgestellt, daß mündliche Kulturen sich nur auf eine Weise ‚selbst‘ in den Blick bekommen können: durch die Konstruktion des ‚Fremden‘. Indem mündliche Kulturen dem oder den Fremden gegenübertreten, können sie ein Bewußtsein ihrer selbst entwickeln, was allerdings noch nicht ein Bewußtsein für geschichtliche Veränderungen beinhaltet. Dieses wird erst durch die Schrift ermöglicht.

Die Parallelen zu Plessner sind offensichtlich: mündliche Kulturen bilden immer Gemeinschaften, während schriftliche Kulturen Gesellschaften bilden. Die Schrift macht gesellschaftsfähig.

Von Braun fügt diesen Gedanken einen weiteren Aspekt hinzu: Es ist das Geld, das die Menschen einander zu Fremden macht. Während die Schrift das Gedächtnis externalisiert und so auf kultureller Ebene eine exzentrische Positionierung des Menschen ermöglicht, verwandelt das Geld jeden einzelnen Menschen, der bereit ist, Waren gegen Geld einzutauschen, in einen Fremden, weil es den Unterschied zwischen dem Nächsten (Gemeinschaft) und dem Fremden aufhebt. (Vgl. von Braun 2/2012, S.38) Geld, insbesondere das zinsfähige nominalistische Geld, verwandelt also Gemeinschaften in Gesellschaften.

Marcel Mauss zufolge wird in mündlichen Gesellschaften nicht mit Geld bezahlt, also einem abstrakten Tauschmittel, das nicht unmittelbar durch die beteiligten Personen beglaubigt wird, sondern mittelbar durch eine staatliche oder göttliche Autorität. Und schon gar nicht ‚bezahlt‘ man Verwandte für ‚Dienste‘ innerhalb der Familien- oder Dorfgemeinschaft. Stattdessen tauscht man wechselseitig „Gaben“ aus, „weil man sich selbst – sich und seine Besitztümer – den anderen ‚schuldet‘.()“ (Braun 2/2012, S.37)

Lévi-Strauss ist dagegen der Ansicht, daß das eigentliche Prinzip des Gabentausches im „Frauentausch“ und im „Inzestverbot“ liegt, also der Gegenüberstellung und des Umgangs mit einem Fremden bedarf. (Vgl. ebenda) Der Gabentausch als Umgangsform zwischen dem Nächsten und dem Fremden bildet aber auch, wie ich ergänzen möchte, eine Umgangsform mit ‚sich selbst‘, die des Umwegs über den Fremden bedarf. Mit der Einführung des Geldes als Verkehrsform von Gesellschaften verschwindet nun der „Unterschied zwischen dem Nächsten und dem Fremden“, indem alle individualisierten Einzelnen einander unterschiedslos fremd werden. (Vgl. Braun 2/2012, S.38)

Unabhängig davon, ob die Gabe nun eine Umgangsform unter Nächsten, also innerhalb einer Gemeinschaft, oder eine Umgangsform zwischen Nächsten und Fremden, also zwischen verschiedenen Gemeinschaften darstellt: das Geld hebt beide Formen der Gabe auf, indem es entweder die Nächsten einander entfremdet oder die Differenz zwischen dem Nächsten und dem Fremden aufhebt. Dazu trägt wiederum erstaunlicherweise gerade das Christentum bei. Die Linie zieht sich hier von der „‚universellen Brüderlichkeit‘ des mittelalterlichen Christentums“ zum modernen Liberalismus, in dem „sich alle als ‚Fremde‘ begegnen“. (Vgl. Braun 2/2012, S.157) Zunächst einmal waren die christlichen Urgemeinden elternlos, so wie schon Jesus ‚vaterlos‘ gewesen ist. (Vgl. Braun 2/2012, S.159) Sie standen also außerhalb der traditionellen, gemeinschaftsstiftenden Genealogien (Blutsbande).

Ein weiterer Schritt in Richtung auf eine Gesellschaft einander gleichgestellter, vereinzelter Individuen wurde in der Reformation vollzogen, indem z.B. Calvin von einer „Welt der universellen Andersheit (Otherhood)“ sprach, in der alle „gleichermaßen Andere“ sind. (Vgl. Braun 2/2012, S.158) So wurde es möglich, innerhalb der Christengemeinschaft Handel zu treiben; denn mit Verwandten treibt man, wie schon erwähnt, keinen Handel.

Alle diese drei Positionen, Plessner, Assmann und von Braun arbeiten also mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten: Gemeinschaft/Gesellschaft (Plessner), Mündlichkeit/Schriftlichkeit (Assmann) und Gabe/Geld (von Braun). Sie treffen sich dabei in erstaunlich ähnlichen Differenzierungen, die sich, wie ich finde, wechselseitig stützen.

Im Rahmen dieses Blogs stellt sich mir die Frage nach dem Verhältnis von ‚Geld‘ und Lebenswelt. Nominalistisches Geld bildet ähnlich wie die Lebenswelt eine Bewußtseinsform, in der das (Unter-)Bewußtsein das Sein bestimmt und nicht das Sein das Bewußtsein, – es sei denn man schlägt das Unterbewußte der Seite des Seins zu und nicht dem Bewußtsein. Jedenfalls müssen wir ‚Glauben‘ in das Geld investieren.

Das erinnert an den „Lebensweltglauben“, von dem hier schon in mehreren Posts die Rede gewesen ist. (Vgl. meine Posts vom 06.02.2012, 10.02.201211.02.2012 und vom 15.05.2012) Wenn also das ‚Geld‘ auf dem Untergrund eines Lebensweltglaubens gedeiht, so hätte der christliche Glaube eine Art ‚Dünger‘ für diesen ‚Boden‘ gebildet. Genauer kann ich das im Moment nicht auf den Punkt bringen.

Vielleicht ist an dieser Stelle eine Erinnerung aus meinem Theologiestudium hilfreich. Dort habe ich gelernt, daß die kürzeste Definition für Religion „Unterbrechung“ lautet. „Unterbrechung“ ist aber wiederum das Gegenteil von Lebenswelt und damit des Lebensweltglaubens. Sie läuft auf seine Beendigung und auf einen neuen ‚Glauben‘ hinaus: eben auf eine zweite Naivität. Andererseits beschreibt Jan Assmann mit Bezug auf Thomas Luckmann das kollektive Gedächtnis, also die Lebenswelt, als „unsichtbare Religion“. (Vgl. „Religion und kulturelles Gedächtnis“ (3/2007), S.115; vgl. auch meinen Post vom 05.02.2011) ‚Unsichtbar‘ ist diese Religion, weil sie uns vom Rücken her bestimmt und wir sie deshalb nicht  in den Blick nehmen können, und ‚Religion‘, weil sie den Glauben beinhaltet, daß alles schon immer so gewesen ist, wie es ist, und auch immer so bleiben wird.

Damit aber handelt es sich bei der ‚unsichtbaren‘ Religion eindeutig um einen Lebensweltglauben, während es sich bei der Religion als ‚Unterbrechung‘ um eine exzentrische Positionierung des bisherigen ‚Gläubigen‘ handelt, also um einen zweiten Glauben bzw. um eine zweite Naivität.

In welcher Weise ‚glauben‘ wir also nun an das ‚sichtbare‘ Geld? Von Braun legt selbst nahe, daß wir von einem Unsichtbaren her an das Unsichtbare glauben (vgl. Braun2/2012, S.111 u.ö.): ex nihilo. Zu diesem verweigerten Spiegel gibt es keine exzentrische Position.

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