„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 22. Dezember 2012

Das Ich im Sumpf

(Christina von Braun, Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2/2012)

In ihrem letzten Kapitel schreibt von Braun etwas Erstaunliches: „Die assistierte Reproduktion entspricht ... einem tatsächlichen Bedürfnis von Individuen. Sie entspricht aber auch der Logik des Geldes. ... Das Bedürfnis ist ‚authentisch‘, und es entspricht zugleich dem Bedürfnis der freien Marktwirtschaft nach frei flottierenden sexuellen Identitäten.“ (Braun 2/2012, S.422)

Von Brauns Bekräftigung, daß es trotz aller Geldschleier und Geldillusionen so etwas wie authentische Bedürfnisse gibt, kommt ziemlich plötzlich und unvermittelt und bereitet den Boden für das Schlußwort, in dem die Autorin ihre ‚bescheidene‘ Hoffnung zum Ausdruck bringt, daß es dem ‚Menschen‘ und hier insbesondere der ‚Frau‘ gelingt, „ihre Begeisterung für das Geld im Zaum zu halten und weniger Diensteifer zu entwickeln.“ (Braun 2/2012, S.440) Was die Frauen betrifft, hebt von Braun hervor, daß sie dabei nicht an „individuelle() Frauen“ denkt, sondern an die „kollektiven Imaginationen der Gesellschaft über die Frauenrolle“, in denen die Frauen im Zivilisationsprozeß immer schon eine andere Funktion hatten als die Männer, so daß sich hier ein gewisser individueller Spielraum ergibt, den wiederum einzelne konkrete Frauen für sich nutzen können. (Vgl. ebenda)

Doch gerade was diesen ‚Spielraum‘ betrifft, drängt sich die Frage nach dem ‚Standbein‘ auf, auf dem das seinen Spielraum nutzende ‚Ich‘ eigentlich steht. Schließlich hatte von Braun bislang keinen Zweifel daran gelassen, daß das selbstbewußte Ich-Gefühl nur eine Funktion des ‚Schleiers‘ ist, hinter dem das Geld seinen eigenen Subjektstatus verbirgt. (Vgl. meinen Post vom 05.12.2012) Von Braun stellt die geschichtliche Dynamik der Subjektwerdung des abendländischen Menschen sogar als einen Inflationsprozeß dar, in der die mit der Geldvermehrung unvermeidbar verbundene Geldentwertung und die Aufklärung einander entsprechen: „Die Begriffsgeschichte berichtet also von einem engen Zusammenhang zwischen ... einem ‚aufgeblasenen Ich‘ und ‚aufgeblasenem Geld‘.“ (Braun 2/2012, S.300)

In ihrem Schlußwort kehrt von Braun diese Analyse nun ins Positive: „Ich habe im Buch mehrfach wiederholt: Das Geld zerstört nicht das Ich; vielmehr bedarf es starker Ichs, um die ihm eigene Dynamik zu realisieren. Nun haben diese ‚starken Ichs‘ aber auch gelegentlich die Neigung, sich von ihrem Dienstherren zu verabschieden und auf ‚die andere Seite‘ überzulaufen, also zu Agenten der Geldkritik zu werden.“ (Braun 2/2012, S.440) – Damit haben wir es am Ende nun doch noch einmal mit einem Paradox zu tun: Das starke Ich bildet eine notwendige Funktion der Gelddynamik und kann sich deshalb gegen das Geld wenden, ohne das es dieses Ich nicht gäbe. Ein wenig erinnert mich das an Münchhausen, der sich an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht, wobei der Sumpf hier für das „Unbewusste des Geldes“ (Braun 2/2012, S.441) steht.

Aber es erinnert mich noch an etwas anderes: an Damasios unsichtbaren Dirigenten, der nirgendwo anders vorhanden ist als in der Aufführung des Orchesters, aus dem unser Bewußtsein besteht. (Vgl. meinen Post vom 15.08.2012) Auch das ‚aufgeblasene‘ Ich von von Braun entsteht aus dem Nichts heraus und ergreift im Zuge seiner Erstarkung die Gelegenheit, nach sich selbst zu greifen und – um im Bild zu bleiben – den Sumpf trockenzulegen bzw. die Eigendynamik des Geldes, wie von Braun sich ausdrückt, zu ‚domestizieren‘. (Vgl. Braun 2/2012, S.442) Ähnlich wie der Dirigent bei Damasio zunächst nur eine Funktion des Orchesters bildet, dann aber das Orchester zu dirigieren beginnt, bildet auch von Brauns ‚Ich‘ zunächst nur eine Funktion des Geldes, das es dann aber zu domestizieren versucht.

Was die Erfolgsaussichten dieses Domestikationsversuchs betrifft, ist allerdings, wie von Braun hervorhebt, Skepsis angebracht. Doch ist Skepsis an sich nichts Schlechtes: „Man hat Skepsis und Zweifel immer wieder als Zeichen von Ohnmacht, Entscheidungsunfähigkeit und Schwäche beschrieben. In Wirklichkeit steckt eine ungeheuere – und innovative – Kraft in ihnen. Sie beruht auf der Macht der Erkenntnis und der Bereitschaft zur Einsicht.“ (Braun 2/2012, S.442) – Auch hier bleiben von Brauns Hoffnungen wieder bescheiden, denn sie beschränkt die innovative Kraft von Skepsis und Zweifel letztlich darauf, uns im Handeln zögern zu lassen: „Das kann schon viel sein.“ (Braun 2/2012, S.442)

Angesichts der aktuellen Diskussionen zum Geo-Engineering, die letztlich nur eine weitere gigantische Geldvermehrungs- und -vernichtungsstrategie darstellt – also ein gleichermaßen bedenkenloses wie rücksichtsloses Handeln im Dienste des Geldes –, kann man von Brauns Einschätzung nur zustimmen!

Dennoch fehlt mir bei von Brauns anerkennenswerten Schlußbemerkungen die Frage nach dem Standbein eines zur Kritik erstarkten, dem Geld seinen Dienst verweigernden Ichs. Dabei liegt es angesichts der Bedeutung des menschlichen Körpers für die Beglaubigungsstrategien des Geldes nahe, eben in diesem Körper den Punkt zu sehen, an dem das Ich a la Münchhausen sich selbst ergreift. Das Ich, das nach seinem Schopf greift und sich selbst aus dem Sumpf zieht, steht im Plessnerschen Sinne im „Nichts“, d.h. es ist exzentrisch positioniert: „Als Ich, das die volle Rückwendung des lebendigen Systems zu sich ermöglicht, steht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern ‚hinter‘ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts geht er im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann.“ (Plessner 1975 (1928), S.292; vgl. auch meinen Post vom 26.10.2010)

Es ist die Grenze des Körperleibs, die Gleichzeitigkeit des Körperseins und Körperhabens, die den Spielraum eines widerstandsfähigen, zur Geschichte tauglichen menschlichen Subjekts eröffnet. Das Geld kann nur über den Umweg über diesen Körperleib zum „Subjekt der Geschichte“ werden, indem es sich an die Stelle des menschlichen Subjekts setzt. Wenn also das menschliche Subjekt die Funktion für irgendetwas bildet, dann ursprünglich nicht für das Geld, sondern für den Körperleib, im Sinne des von Damasio beschriebenen Orchesters und seines Dirigenten.

Schließlich ist sicher auch der „Glaube an die Gemeinschaft“ (vgl. Braun 2/2012, S.225 u.ö. und meinen Post vom 15.12.2012) Ausdruck eines authentischen Bedürfnisses des Menschen, denn Tomasello weist zu Recht auf die Ursprünglichkeit dieser Sozialform im Unterschied zur Gesellschaft hin. (Vgl. meinen Post vom 24.05.2011) Wenn also das (nominalistische) Geld die unvermeidliche Tendenz hat, Gemeinschaften zu zerstören, um an deren Stelle Gesellschaften zu setzen, so ist es nicht nur der „Schleier des Geldes“, der die Menschen dazu verführt, dennoch an die Gemeinschaft zu glauben. Darin liegt vielmehr eine imaginäre Kraft, immer wieder neu zu stiften, was das Geld zerstört.

In der industrie- und finanzkapitalistischen Gesellschaft handelt es sich um einen Glauben an nichts. Doch da es sich um ein reales Bedürfnis handelt, hat dieser Glaube und damit die Gemeinschaft ihre eigene Realität. An dieser Stelle greift von Braun übrigens zu einer Formulierung, die sehr an Nietzsches zweite Naivität erinnert: Von Braun zufolge läßt sich Vertrauen „herstellen“! (Vgl. Braun 2/2012, S.443)

Günther Anders hatte diesbezüglich seine Zweifel angemeldet. Angesichts einer durch die Massenmedien ‚arrangierten‘ Realität bestreitet er die Möglichkeit einer ursprünglichen Realitätswahrnehmung: man könne schon vorgeschnittenes Brot nicht wieder zusammenfügen und noch einmal schneiden. (Vgl. meinen Post vom 24.01.2011) Ich hatte an dieser Stelle für die Möglichkeit einer ‚zweiten Naivität‘ plädiert, die die erste Naivität zwar nicht wiederherstellt, aber neue Freiräume des Handelns eröffnet. So verstehe ich auch von Brauns Vorschlag, das „Vertrauen in die Gemeinschaft“ wieder herzustellen. Im bewußten Ergreifen und sich Einlassen auf die Gemeinschaft hätten wir die ursprüngliche Naivität des Glaubens an die Gemeinschaft hinter uns gelassen. Die krasse Entgegensetzung von Gemeinschaft und Gesellschaft, wie sie Plessner beschreibt, wäre aufgehoben und an ihre Stelle ein neuer Freiraum des Handelns getreten.

Dabei handelt es sich aber keineswegs um eine Utopie, für die man in den Krieg ziehen würde, wie von Braun schreibt. (Vgl. Braun 2/2012, S.441) Es handelt sich vielmehr, wie ich ergänzen möchte, um das vergleichsweise bescheidene Vertrauen in die regionale Kooperationsbereitschaft überschaubarer Gruppen von Menschen, die dem rekursiven Fassungsvermögen des individuellen Bewußtseins entsprechen.

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