„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 16. Dezember 2012

Gemeinsame und konkurrierende Aufmerksamkeit I

(Christina von Braun, Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2/2012)

Aufgrund meiner bisherigen Lektüre von Christina von Brauns Buch habe ich versucht, die rekursiven Ordnungen von Gemeinschaft und Gesellschaft zu differenzieren. (Vgl. meinen Post vom 04.12.2012) Zunächst bin ich mit Tomasello von einer gemeinsamen Aufmerksamkeitsstruktur der beteiligten Kommunikationspartner ausgegangen. (Vgl. meinen Post vom 06.06.2012) Unter dieser Voraussetzung ist das einzelne Individuum (Körperleib (A)) in eine Gemeinschaft (B) von Beteiligten eingebettet, die Tomasello als die älteste Form menschlicher Sozialität bezeichnet, die über Jahrzehntausende hinweg das Zusammenleben der Menschen geprägt hat. (Vgl. die Graphik in meinem Post vom 24.05.2011) – Mit ‚Körperleib‘ ist die rekursive Ebenendifferenz gemeint, die ich anhand von Damasios Stufen des Selbst beschrieben habe. (Vgl. meinen Post vom 19.08.2012)


In der Gemeinschaft bildet sich die eigene individuelle Intentionalität im ständigen rekursiven Bezug auf die individuelle Intentionalität der beteiligten Anderen heraus, wobei wir als Beteiligte darauf Wert legen, daß wir um unsere wechselseitigen Bedürfnisse wissen und sie auch miteinander teilen wollen. Das ist im großen und ganzen das, was Tomasello zusammen mit Grice die kommunikative Absicht nennt.

Die gesellschaftliche Perspektive macht Tomasello am unbeteiligten Anderen fest (C-H), den ich hier in meiner Auseinandersetzung mit von Braun – mit Bezug auf Plessner – immer den ‚Fremden‘ genannt habe. Dieser unbeteiligte Andere ist aber bei Tomasello normativ aufgeladen: Er kontrolliert die wechselseitige Bedürfniskoordination der beteiligten Anderen. Alle mir bekannten Kommunikationstheorien beinhalten immer die eine oder andere Form einer solchen normative Autorität beanspruchenden dritten Person.

Die Gesellschaft hat letztlich für die unterschiedlichsten Bedürfnislagen spezielle ‚Institutionen‘ (C-H) entwickelt, die auf formeller wie auf informeller Ebene dafür sorgen, daß Menschen, die einander nicht kennen, dennoch über einander wissen können, was sie von einander wollen und mit einander tun können. Diese ‚Institutionen‘ bilden ebenso viele „neutrale Akteure“, wie Tomasello sie nennt, die darüber wachen, daß sich alle an die Spielregeln halten.

Hat die Rekursivität in der Gemeinschaft die Struktur: „Ich weiß, daß Du weißt, daß ich mit Dir sprechen will, und daß Du weißt, daß ich das weiß!“, so hat die Rekursivität in der Gesellschaft die Struktur: „Wir wissen, daß der unbeteiligte Andere weiß, daß wir miteinander sprechen wollen, und daß er weiß, daß wir voneinander wissen, daß wir das wollen!“ – Dabei bestimmt das institutionell kodifizierte Wissen des unbeteiligten Anderen über das, was die beteiligten Anderen voneinander erwarten dürfen. Kommt es zum Streitfall, weil einer der beiden Kommunikationspartner sich nicht an eine getroffene Absprache gehalten hat, berufen sich beide auf den unbeteiligten Anderen.

Die rekursive Struktur der gemeinsamen Aufmerksamkeit ist im Körperleib ‚geerdet‘ und beruht auf einem Lebensweltglauben und auf einem Wahrnehmungsglauben. (Vgl. meinen Post vom 06.02.2012) Der Lebensweltglaube stabilisiert das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit gemeinsamen Handelns, und der Wahrnehmungsglaube stabilisiert das Vertrauen in die Realitätshaltigkeit individuellen und gemeinsamen Handelns. Gäbe es dieses fundamentale Vertrauen nicht, käme es zu keiner Kommunikation. Aufs Leere zielend stürzten wir in Abgründe des Nichts.

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