„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 15. Januar 2013

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985

1. Individuell oder singulär?
2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe
3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft
4. Systemisch Unbewußtes
5. Kolonialisierung der Lebenswelten
6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus
7. Transzendenz als Ebenendifferenz
8. Rollen versus Masken
9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß

‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘ bilden bei Plessner eher Grundbegriffe als Grenzbegriffe. Sie beschreiben jeweils ganz spezifische soziale Phänomene, die sich wechselseitig ausschließen: dort wo Gemeinschaft ist, kann nicht Gesellschaft sein, und dort wo Gesellschaft ist, kann nicht Gemeinschaft sein. (Vgl. meine Posts vom 14. bis zum 17.11.2010) Bei Christina von Braun ist es ähnlich. Die Gesellschaft funktioniert auf der Basis des Geldes, während die Gemeinschaft durch das Geld zerstört wird. Allerdings hält von Braun dieses Prinzip nicht durch und vermischt die beiden sozialen Phänomene immer wieder, indem sie das Paradox des die Gemeinschaft gleichzeitig zerstörenden und stiftenden Geldes einführt. (Vgl. meine Posts vom 28.11. und vom 04.12.2012)

Es scheint mir offensichtlich zu sein, daß die radikale, grundbegriffliche Trennung von Gemeinschaft und Gesellschaft im Plessnerschen Sinne nicht durchzuhalten ist. Man sollte deshalb vielleicht auch hier besser von Grenzbegriffen als von Grundbegriffen sprechen. Man könnte vielleicht umgangssprachlich formulieren: Gemeinschaft und Gesellschaft verhalten sich ‚grenzwertig‘ zueinander, wobei ‚grenzwertig‘ eben nicht ‚grenzerhaltend‘ im systemtheoretischen Sinne meint. Damit soll angedeutet werden, daß die Phänomene im Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft und umgekehrt ihren Sinn ändern. Es gibt also durchaus einen wechselseitigen Grenzverkehr. Aber diesen möchte ich nicht als ‚Stoffwechsel‘ verstanden wissen. Dabei stellt sich zugleich auch die Frage nach der Funktion der Lebenswelt, die sowohl gemeinschaftliche wie auch gesellschaftliche Prozesse unterstützt.

Bei Habermas ist nur an einer Stelle in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ explizit von dem „Kontrast zwischen ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘“ die Rede. (Vgl.Bd.2: S.334) Er führt diesen Kontrast auf Ferdinand Tönnies zurück und bezieht sich dabei auf Talcott Parsons, dem er vorhält, daß seine Systemtheorie von diesem Kontrast beeinflußt sei. Auch hier geht es um die gleiche Differenz zwischen einerseits intimen Identifizierungsprozessen (Gemeinschaft) und den dazu „konträren Präferenzkombinationen“ auf der Seite der Gesellschaft. (Vgl.Bd.2: S.335)

Habermas selbst spricht niemals einfach von einem Kontrast zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Sein „Grundbegriff“ ist die „Kommunikationsgemeinschaft“ und das von ihr „intersubjektiv geteilte() Hintergrundwissen“ (Bd.1: S.32), sprich: die „Lebenswelt“ als „Komplementärbegriff zum ‚kommunikativen Handeln‘“ (Bd.2: S.198). Innerhalb der sozialen Phänomene spricht Habermas durchaus positiv von einer Ausdifferenzierung (Dezentrierung) der Welten (vgl. meinen Post vom 13.01.2013); aber diese treten nicht in einen ‚Kontrast‘ zueinander, sondern bleiben innerhalb des kommunikativen Handelns über das Interesse der Interaktionspartner an einer „gemeinsamen Situationsdefinition“ aufeinander bezogen (vgl.Bd.2: S.392). Hier ist es insbesondere die Lebenswelt, die die „Doppelkontingenz“ (Bd.2: S.392) wechselseiter Erwartungserwartungen von „Aktoren“, sprich: Kommunikationspartnern, stabilisiert. (Vgl.Bd.2: S.208f.)

Dieser Stabilisierungsvorgang ist wiederum ein wechselseitiger: nicht nur die Lebenswelt stabilisiert das kommunikative Handeln einer Kommunikationsgemeinschaft, sondern deren kommunikatives Handeln stabilisiert wiederum die Lebenswelt, indem es diese „symbolisch reproduziert“. (Vgl.Bd.2: S.347) Kommunikationsgemeinschaft und Lebenswelt stabilisieren und reproduzieren einander also wechselseitig.

An dieser Stelle gelangt Habermas nun doch zu einem gewissen Antagonismus zwischen Kommunikationsgemeinschaft und Gesellschaft. Während die Kommunikationsgemeinschaft vor allem durch gemeinsame Verständigung im Handeln gekennzeichnet ist, ist die Gesellschaft vor allem durch die Kommunikationsmedien ‚Geld‘ und ‚Macht‘ dominiert, was wiederum an von Braun und den „Preis des Geldes“ erinnert. (Vgl. Bd.1: S.29, 108; Bd.2: S.398ff., 406 u.ö.) Habermas selbst verweist auf Parallelen zwischen dem Sinnreservoir, dem „Wissensvorrat“ (Bd.1: S.150, 209, 329, 331) der Lebenswelt und dem Geld. Er spricht von der „‚Deckungsreserve‘ guter Gründe“ (vgl.Bd.1: S.29 (Anm.18)) und stellt die Lebenswelt als ein Speichermedium dar, vergleichbar einer Bank, die die „vorgetane Interpretationsarbeit vorangegangener Generationen“ speichert (vgl.Bd.1: S.107).

Der Antagonismus, der hier Habermas zufolge droht, besteht darin, daß im Gesamtsystem der Gesellschaft die Subsysteme der Ökonomie (Geld) und der Bürokratie (Macht) alle anderen Subsysteme zu dominieren beginnen und auf die symbolischen Reproduktionsprozesse der Lebenswelt übergreifen (vgl.Bd.2: S.476), so daß es hier zu „Anomien“ (Bd.2: S.222) kommt, also die symbolischen Reproduktionsprozesse gestört werden und ihre Funktion nicht mehr erfüllen können, die „Legitimationsbedürfnisse“ (von Braun spricht vom „Glauben“) der Gesellschaft zu befriedigen. (Vgl.Bd.2: S.480) Das Kommunikationsmedium ‚Geld‘ beginnt nun die Lebenswelt zu ‚kolonialisieren‘ (vgl.Bd.2: S.S.471, 476 u.ö.), sprich einseitig auf ökonomische Systemimperative auszurichten (vgl.Bd.1: S.112f., Bd.2: S.347ff., 480 u.ö.).

Hier kommt Habermas den von Braunschen kulturgeschichtlichen Analysen zum Geld schon recht nahe. Allerdings dringt Habermas nicht bis zum Phänomen des Finanzkapitals vor, da er immer noch naiv vom Gold als der Deckungsreserve des Geldes ausgeht. (Vgl.Bd.2: S.398ff.)

Der Antagonismus besteht bei Habermas also nicht auf der Ebene der Grundbegriffe „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, sondern „zwischen Forderungen der Kultur und Überlebensimperativen“ (vgl.Bd.2: S.347), also zwischen symbolischen und materiellen Reproduktionsbedürfnissen, und er betrifft vor allem die Lebenswelt. Bei der Frage, wie lebensweltliche und systemische Mechanismen ineinandergreifen, sich wechselseitig stören und bedingen, verstrickt sich Habermasens Analyse aber in begriffliche Widersprüche. Das liegt vor allem daran, daß er beiden Mechanismen die gleiche Funktion zuschreibt: das kommunikative Handeln zu stabilisieren. Mal schreibt er diese Funktion der Lebenswelt zu (vgl.Bd.2: S.208f.), mal den systemischen Mechanismen der Gesellschaft: Habermas bezeichnet „Gesellschaften als systemisch stabilisierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen“. (Vgl.Bd.2: S.301, 349)

Wegen dieser begrifflichen Unklarheit überwindet Habermas den Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft nicht wirklich. Auch Habermasens vorsichtig zustimmender Bezug auf Poppers Konzept von den geschlossenen und offenen Gesellschaften als einem möglichen „kontextunabhängige(n) Maßstab für die Rationalität von Weltbildern“ (vgl. Habermas Bd.1: S.96f.) gehört noch zur Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft.

Der Kontrast zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft wird letztlich in die Lebenswelt selbst hinein verlegt und damit kaschiert. Mal beschreibt er die Lebenswelt als Legitimationsquelle der Gesellschaft, die das kommunikative Handeln (Erwartungserwartungen der Aktoren) in der Gesellschaft stabilisiert, mal beschreibt er die Gesellschaft als Systemzusammenhang, der ebenfalls das kommunikative Handeln stabilisiert. Dann wieder differenziert er innerhalb der Lebenswelt selbst zwischen symbolischen und materiellen Handlungsebenen, von denen nur die materielle Ebene den Systemimperativen gegenüber empfänglich ist, während die symbolische Ebene, die aus Prozessen des Sinnverstehens besteht, sich ihnen gegenüber sperrt und sogar von ihnen beschädigt wird. (Vgl.Bd.2: S.348f., 391) Die Lebenswelt selbst beinhaltet also ein systemisches, d.h. gesellschaftliches Moment.

In den folgenden Posts werde ich noch öfter auf diesen inneren Widerspruch in Habermasens Kommunikationstheorie zurückkommen.

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