„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 7. Februar 2013

Rupert Sheldrake, Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat, München 2012

1. Prolog
2. Evolution auf der Basis morphischer Resonanz
3. Der ‚Geist‘ in der Naturwissenschaft
4. Ganzheiten wie z.B. eine Welle
5. Die Metapher des Gravitationsfeldes
6. „Brauchen wir wirklich ein Gehirn?“
7. Rekursivität und Doppelblindverfahren
8. Eine zeitliche Anatomie des Körperleibs

Rekursive Formeln haben wir in diesem Blog schon öfter vorgestellt. Dazu zählen Formeln des Wissens über das Wissen des Anderen, des Wissens über innere Einstellungen des Anderen, Luhmanns Erwartungserwartungen, also Vermutungen über das, was Andere von einem selbst erwarten etc. Habermas bezeichnet diese rekursiven Strukturen des sozialen Bewußtseins als „Hintergrundwissen“ bzw. als „Lebenswelt“. (Vgl. meine Posts vom 14.01.15.01. und vom 16.01.2013) Sheldrake fügt noch zwei weitere rekursive Formeln hinzu: die des „Glaubens an den Glauben“ (Sheldrake 2012, S.406), also des Glaubensglaubens, und den „Experimentatoren-Erwartungs-Effekt“ (Sheldrake 2012, S.402).

Sheldrake spricht diesem ‚Glaubensglauben‘ eine „große() Bedeutung für die Erhaltung gesellschaftlicher Institutionen“ zu. (Vgl. ebenda) Wir haben es also auch hier mit einer lebensweltlichen Funktion zu tun, ganz ähnlich wie bei Habermas. Wie dieser Lebensweltglaube wirkt, beschreibt Sheldrake am Beispiel des Placeboeffekts: „Lange Zeit galt der Placeboeffekt in der medizinischen Forschung als ärgerlicher Störfaktor bei klinischen Tests. Man wollte ja etwas über ‚wirkliche‘ Heilmittel herausfinden, und da war der Placeboeffekt einfach eine unerwünschte Komplikation. Aber diese Einstellung beginnt sich jetzt zu wandeln. Die Placeboantwort zeigt, dass die Annahmen und Hoffnungen der Patienten eine wichtige Rolle im Heilungsprozess spielen.“ (Sheldrake 2012, S.358)

Der Placeboeffekt beruht ausschließlich auf den subjektiven Erwartungen des Patienten. Wenn der Arzt ihm erzählt, daß eine Tablette aus Zucker ein hochwirksames Medikament sei, kann diese Tablette Heilungsprozesse in Gang bringen. Dieser Effekt verstärkt sich sogar noch, wenn der Arzt selber glaubt, daß es sich bei der besagten Tablette um ein hochwirksames Medikament handelt: „Zu den stärksten Placeboreaktionen kommt es, wenn sowohl die Patienten als auch die Ärzte glauben, es werde ein hochwirksames neues Medikament getestet.“ (Sheldrake 2012, S.355)

Die wechselseitigen Erwartungen von Arzt und Patient verstärken also den Heilungserfolg, weshalb gute Ärzte den Placeboeffekt inzwischen für ihre Therapie nutzen: „Die besten Ärzte setzen die Placebowirkung voll ein, die schlechtesten nutzen die Placeboverstärkung bei ihren Behandlungen kaum.()“ (Simon Sing/Edzart Ernst 2009, zitiert nach Sheldrake 2012: S.359)

In der medizinischen Forschung werden deshalb immer öfter „Doppelblindverfahren“ angewendet, um den Placeboeffekt unter Kontrolle zu halten; d.h. weder die Patienten noch die Experimentatoren wissen genau, was sie gerade machen, ob sie es mit Placebos zu tun haben oder nicht. Wobei das Placebo sich nicht nur auf das Verabreichen von Medikamenten beschränkt, sondern auch in „vorgetäuschte(n) Operationen“ bestehen kann. (Vgl. Sheldrake 2012, S.357)

Auch bei Verhaltensforschungen mit Tieren sind Doppelblindverfahren sinnvoll. Wenn Experimentatoren Ratten durch ein Labyrinth laufen lassen und man ihnen erzählt, daß es sich bei einigen von ihnen um selektiv auf Schlauheit gezüchtete Ratten handelt, so haben die angeblich genetisch aufgewerteten Ratten höhere Erfolgsraten beim Finden des Ausgangs als die anderen angeblich nicht genetisch aufgewerteten Ratten, auch wenn es sich bei allen Ratten um ganz normale, nach dem Zufallsprinzip ausgesuchte Exemplare handelt. (Vgl. Sheldrake 2012, S.396)

Sheldrake führt den Placeboeffekt natürlich auf die morphische Resonanz zurück. Die morphogenetischen Felder unserer Überzeugungen und Erwartungen verstärken sich wechselseitig und das sogar artübergreifend. Das passiert Sheldrake zufolge sogar in den sogenannten ‚harten‘ Naturwissenschaften, wo der Beobachtereffekt zumindestens in der Quantenmechanik bekannt ist. Ansonsten leugnen aber Naturwissenschaftler den Beobachtereffekt gerne: „Am häufigsten wurde von Vertretern der physikalischen und der Biowissenschaften vorgebracht, Blindmethoden seien unnötig, weil ‚die Natur selbst blind‘ sei“, wie Sheldrake bei einer von ihm durchgeführten Umfrage feststellte. (Vgl. Sheldrake 2012, S.398)

Sheldrake spricht sogar von einem regelrechten „Schweigeabkommen“ der „wissenschaftlichen Gemeinschaft“ hinsichtlich des „Experimentatoren-Erwartungs-Effekts“. (Vgl. Sheldrake 2012, S.402) Das Ergebnis ist, daß das Doppelblindverfahren in der Parapsychologie in etwa 80 % der Experimente zur Anwendung kommt und in den physikalischen und Biowissenschaften nur zu 0 bis 2,5 %. Verstärkt wird der Erwartungseffekt noch durch das Peer-Review-Verfahren wissenschaftlicher Zeitschriften, in denen vor allem solche wissenschaftlichen Forschungsergebnisse akzeptiert werden, die die allgemein erwarteten Resultate erbringen. (Vgl. Sheldrake 2012, S.405)

Ein besonders drastisches Beispiel für die rekursive Macht fremd induzierter Intuitionen bildet die Hypnose. Sheldrake schildert ein Erlebnis, wo ein Physiologiedozent einem Studenten, dem er zuvor suggeriert hatte, daß es sich um eine glühende Zigarette handelt, das stumpfe Ende eines Bleistifts auf den Arm drückt, woraufhin sich Brandblasen bildeten. (Vgl. Sheldrake 2012, S.260f.)

An dieser Stelle wird nun allerdings auf drastische Weise deutlich, worin das Problem bei Sheldrakes Konzept der morphogenetischen Felder besteht. Wir haben es mit einer umfassenden Theorie der Wechselwirkung zu tun. Sie beschreibt, wie alles mit allem zusammenhängt. Die Wechselwirkungen sind aufgrund der nicht-lokalen Wirkungsweise der morphischen Resonanz räumlich und zeitlich unbegrenzt: „Wenn die morphische Resonanz nicht mit wachsender Entfernung schwächer wird, würden neue Kristalle auf der Erde in Resonanz mit gleichartigen Kristallen auf anderen Planeten stehen und deshalb ohne Weiteres kristallisieren, ohne eine Lernphase.“ (Sheldrake 2012, S.147)

Auf diese Weise glaubt Sheldrake erklären zu können, warum in der chemischen Industrie bestimmte Verfahren zur Kristallisierung, die jahrelang problemlos funktioniert hatten, plötzlich durch unerwünschte Kristallbildungen, die bis dahin nie aufgetreten waren, unbrauchbar wurden. Sheldrake zufolge wäre es denkbar, daß irgendwo im Weltraum, auf entfernten Planeten evolutionäre Modifikationen in der Kristallbildung stattgefunden haben, die sich nun hier auf der Erde auswirken. (Vgl. Sheldrake 2012, S.139ff.)

In Verbindung mit der Hypnose, also mit Bezug auf das menschliche Bewußtsein, stellt sich die Frage, inwiefern wir unter den Bedingungen einer nicht-lokalen Rekursivität überhaupt frei sind, unsere eigenen Gedanken zu denken? Wo in Sheldrakes Konzept zu den morphogenetischen Feldern ist der Ort einer eigenständigen individuellen Urteilskraft?

Ich habe in allen meinen Posts in diesem Blog immer wieder großen Wert darauf gelegt, daß der einzelne Mensch, das Individuum, aus der Lebenwelt ‚herausfallen‘ kann. Nur in Form einer zweiten Naivität, also in einer kritischen Positionierung zu unserer eigenen Naivität ist Freiheit denkbar. Der Begriff der Lebenswelt ist aber immerhin noch einigermaßen begrenzt: er bezieht sich nur auf das menschliche Bewußtsein. Sheldrake aber entgrenzt nun diese Lebenswelt und dehnt sie auf den Weltraum aus, so daß wir – ungeachtet der unendlich weiten lebensfeindlichen Ödnis, in der sich die kleine blaue Perle unseres Planeten dreht – nun sogar von einem Lebenswelt-Raum sprechen müßten. Wie sollen wir uns ihm gegenüber exzentrisch positionieren?

Sheldrakes Konzept erklärt uns nicht den Menschen. Es erklärt uns nur die Welt. Und das umso mehr, als Sheldrake das Bewußtsein vom Körper abkoppelt und es als ein immaterielles Energiefeld faßt, das des Körpers nur als Empfangsstation bedarf, nach seinem Verfall aber in das „kollektive Gedächtnis der Menschheit“ (Sheldrake 2012, S.277) eingeht: „Wenn Erinnerungen nicht als materielle Spuren im Gehirn gespeichert sind, sondern als Resonanzphänomene existieren, gehen sie vielleicht nicht mit dem Tod verloren, auch wenn der Körper, über den sie unter normalen Umständen abgerufen werden, nicht mehr existiert.“ (Sheldrake 2012, S.445)

Hier versucht Sheldrake für meinen Geschmack entschieden zu viel zu erklären. Mutmaßungen über den körperleiblichen Tod hinaus erfüllen vielleicht religiöse Bedürfnisse. Sie bleiben aber belanglos hinsichtlich dessen, was hier und jetzt zu tun ist.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen