„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 20. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1. Nachtrag zur Interdisziplinarität
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

Nach allen bisherigen Posts zu Habermas bekommt man den Eindruck, daß auch Habermas trotz aller Orientierung auf die Gesellschaft und die soziale Pragmatik letztlich nicht anders kann, als auf individuelle Bewußtseinsfunktionen zurückzugreifen, um kooperatives bzw. kommunikatives Handeln seinerseits zu begründen. Darauf deutet z.B. das „ontologische Primat“ hin, daß er der Lebenswelt zuspricht, das u.a. auch im organischen Leib begründet ist. (Vgl. Habermas 2012, S.25) Zwar steht dieser Leib in einer Reihe mit intersubjektiv geteilten Praktiken und Überlieferungen; aber schon daß Habermas diese drei Momente der Lebenswelt auf eine Ebene stellt, beinhaltet, daß er an seiner bewußtseinsfeindlichen Einstellung Abstriche macht.

Allerdings hütet er sich davor, näher zu bestimmen, worin diese organische Leiblichkeit eigentlich genau besteht. An anderer Stelle hebt Habermas die Aspekte der körperlichen Unverfügbarkeit und der Natalität hervor. (Vgl. „Die Zukunft der menschlichen Natur“ (2001), S.32, 41; S.93-105) Dort macht sich Habermas auch Sorgen um die „somatischen Grundlagen des spontanen Selbstverhältnisses und der ethischen Freiheit“ (vgl. Habermas 2001, S.30), die bisher der Macht des Intersubjektiven entzogen gewesen sind und nun unter den Bedingungen der modernen Reproduktionsmedizin bedroht sind. Davon ist aber in seinem neuesten Buch, das ich hier bespreche, nicht die Rede. Stattdessen werden Körperbewegungen nur als Katalysatorfunktion für das Zustandekommen sozialer Beziehungen in Betracht gezogen. (Vgl. Habermas 2012, S.61ff.)

Dennoch findet Habermas bei der Beschreibung des Erkenntnissubjektes zu Formulierungen, die an Plessners Körperleib und an die damit zusammenhängende Doppelaspektivität von Innen und Außen erinnern: „... unter epistemologischen Gesichtspunkten hat das erkennende Subjekt eine gegenüber der Welt im Ganzen externe Stellung bezogen. Als Geist hat sich das Subjekt aus dem Ganzen vorstellbarer Objekte zurückgezogen. Andererseits kann es sich selbst, zusammen mit seinen Vorstellungen, Passionen und Handlungen, als in den kausalen Nexus der Welt verflochtenes Objekt in der Welt vorstellen. Daher geht die objektive Welt nicht vollständig in der Gesamtheit der physikalisch erklärbaren Phänomene auf; sie erstreckt sich auch auf das psychologisch zu erklärende Mentale. Das Mentale lässt sich zwar als Objekt betrachten, aber zugleich ist es nur im Vollzugsmodus als tätiger und rezipierender Geist.“ (Habermas 2012, S.35)

Hier spricht Habermas dem Erkenntnissubjekt als solchem, ohne es gleich in einen sozialen Kontext einzuordnen, eine „externe Stellung“ der Welt gegenüber zu. Er positioniert das Erkenntnissubjekt also exzentrisch und beschreibt sogar den damit zusammenhängenden Doppelaspekt als Subjekt der Welt gegenüber und als Objekt in der Welt. Das „Mentale“, also das Bewußtsein, kann gleichermaßen als Objekt reflektiert und als „Vollzugsmodus“ eines „tätigen“ Geistes verstanden werden. Es „verschränkt sich“, wie Habermas schreibt, „von Haus aus mit Selbstbewusstsein.“ (Vgl. Habermas 2012, S.36)

Habermas bezeichnet diese Doppelaspektivität des „Psychischen“ als „Janusgesicht“, und er gesteht ein, daß aufgrund dieser Janusköpfigkeit „Erlebnistatsachen ... bis heute auf eine irritierende Unvollständigkeit der objektivierenden Weltbeschreibung aufmerksam (machen)“ (vgl. Habermas 2012, S.36).

Alle diese Zitate sind natürlich immer vor dem Hintergrund zu lesen, daß Habermas zufolge ‚ego-zentrische‘ Positionierungen, also als Ich-Bewußtsein, nur als soziale Konstruktionen zu verstehen sind. (Vgl. Habermas 2012, S.62, Anm.Nr.8) Einen „transzendenten Standpunkt“ – im Sinne einer exzentrischen Positionierung – gesteht Habermas vor allem religiösen und „intellektuellen Eliten“ zu (vgl. Habermas 2012, S. 30), – also wieder einer Mehrzahl von Individuen und nicht den Individuen selbst.

Dann unterläuft ihm aber doch wieder eine Formulierung, die sich so lesen läßt, daß auch die Individuen sich zu sich selbst, also exzentrisch positionieren können: „Die beteiligten Personen können gegenüber ihrem eigenen Engagement die Einstellung einer dritten Person einnehmen und eine performativ hergestellte kommunikative Beziehung in einem weiteren Akt der Verständigung zum Thema machen, und das heißt: als etwas in der Welt Vorkommendes behandeln.“ (Habermas 2012, S.25)

Wir haben es hier mit einem rekursiven Bewußtseinsakt zu tun: die Person wechselt sich selbst gegenüber die Ebene bzw. Perspektive. Sie nimmt ihrem „eigenen Engagement“ gegenüber, also ihrer eigenen Naivität gegenüber eine reflektierende Einstellung ein. Vergessen wir für den Moment, daß Habermas diesen Perspektivenwechsel in eine grammatische Konstruktion, eben der dritten Person, einbettet. Es soll für den Moment genügen, daß Habermas dem individuellen Bewußtsein hier eine eigene Freiheit zugesteht.

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