„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 5. Februar 2013

Rupert Sheldrake, Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat, München 2012

1. Prolog
2. Evolution auf der Basis morphischer Resonanz
3. Der ‚Geist‘ in der Naturwissenschaft
4. Ganzheiten wie z.B. eine Welle
5. Die Metapher des Gravitationsfeldes
6. „Brauchen wir wirklich ein Gehirn?“
7. Rekursivität und Doppelblindverfahren
8. Eine zeitliche Anatomie des Körperleibs

Metaphern bilden Sheldrake zufolge gleichermaßen notwendige wie unvermeidbare Instrumente auch des naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses; denn „ein metaphernfreies Denken steht nicht zur Wahl. Die Naturwissenschaft ist voller Metaphern. ‚Naturgesetz‘ ist eine Metapher, das Computermodell des Gehirns ist eine Metapher und so weiter.“ (Vgl. Sheldrake 2012, S.171)

In diesem Sinne bedient sich Sheldrake auch des Gravitationsfeldes als Metapher, um einige charakteristische Eigenschaften morphogenetischer Felder zu beschreiben: „Gravitation ist eine Anziehungskraft, die auf alles in ihrem Einflussbereich einen Zug ausübt. Ein Objekt im Gravitationsfeld wird in Richtung Zukunft gezogen. ‚Gravitation wirkt in Richtung von Zielen, die in der Zukunft legen, und in diesem Sinne wirkt sie zeitlich rückwärts. ... Gegen den kontrahierenden Zug der Schwerkraft wirkt die dunkle Energie, die den Raum selbst expandieren lässt. Sollte es genug von dieser dunklen Energie geben, wird sich der Raum nach Roger Penroses Theorie ... immer weiter ausdehnen, bis alle Strukturen auseinanderfallen. Materie wird verdünnt, bis alles zu einem unterschiedlosen Meer von Photonen und anderen masselosen Teilchen geworden ist.() Ein Endstadium, dem laut Penrose dennoch irgendwie die Entstehung des nächsten Universums in einem Urknall folgt. ... Alle Organismen im Universum sind wie verkleinerte Entsprechungen dieses kosmischen Geschehens. Vereinigende Felder ziehen sie in Richtung in der Zukunft liegender Attraktoren, während aus der Vergangenheit fließende Energie sie antreibt. Alle Systeme sind in größere Ganzheiten eingebettet – Atome in Moleküle, Organellen in Zellen, Tiere in Ökosysteme, die Erde ins Sonnensystem, das Sonnensystem in die Galaxie, und sie alle besitzen ihre eigenen Zielpunkte und Attraktoren.“ (Sheldrake 2012, S.200f.)

Nebenbei bemerkt: das Wort „irgendwie“ in der Formulierung zu Penrose, demzufolge das „Endstadium“ „irgendwie“ zur „Entstehung des nächsten Universums in einem Urknall“ führen soll, zeigt nochmal den wackligen Status physikalischer Hypothesen.

In diesem ausführlichen Zitat beschreibt Sheldrake, wie gesagt, einige Merkmale des Gravitationsfeldes, die er auch den morphogenetischen Feldern zuspricht. Die „Anziehungskraft“ wird als ein in die Zukunft gerichteter „Zug“ beschrieben, auf einen „Endzustand“ hin, der zugleich auf die auf ihn hinzielende Dynamik der Schwerkraft zurück wirkt. Wir haben es also mit einer finalen Kausalität zu tun, bei der die Ursache für das Geschehen nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft liegt. Diese Funktionsweise eines Feldes bezeichnet Sheldrake als „Attraktor“: „Morphische Felder enthalten Attraktoren (Zielpunkte) und Chreoden (durch Gewohnheit ‚ausgetretene‘ Wege zu diesen Zielen), die ein System auf seinen Endzustand zusteuern und seine Ganzheit wahren, indem sie es gegen Störungen stabilisieren.“ (Sheldrake 2012, S.137)

In einem morphogenetischen Feld kann zwischen in der Vergangenheit liegenden Ursachen und in der Zukunft liegenden Endzuständen nicht unterschieden werden. Prozesse werden gleichzeitig angeschoben – in der Metapher des Gravitationsfeldes: ich werfe einen Stein – und ‚streben‘ einem Endzustand entgegen: der Stein fällt zu Boden. Mit dem Feldbegriff erklärten die Physiker im 19. und 20. Jahrhundert Zustände bzw. Ereignisse im leeren Raum, für die sie bis dahin den Begriff des Äthers verwendeten, einem materiellen, unsichtbaren Medium, das Wechselwirkungen zwischen materiellen Gegenständen erklären sollte, die nicht in unmittelbarem Kontakt miteinander stehen. Da es aber solche Wechselwirkungen auch im Vakuum gibt, wurde der Begriff des Äthers durch den Begriff des Feldes als einem von Materie unabhängigen Energiephänomen ersetzt.

Aus dem gleichen Grund postulieren die heutigen Physiker die Existenz dunkler Materie und dunkler Energie, um Ereignisse im scheinbar leeren Raum des Universums zu erklären. So nimmt z.B. die Geschwindigkeit der Expansion des Weltraums immer mehr zu, obwohl sie nach den Gesetzen der Entropie abnehmen müßte. Das soll die dunkle Energie erklären, die sich im sich vergrößernden leeren Raum zwischen den Galaxien oder Galaxienhaufen nicht etwa verdünnt, sondern vermehrt. Diesen seltsamen Bruch des Energieerhaltungsgesetzes erklären sich die Physiker mit den Begriffen des „Quantenvakuumfeldes“ und des „Quintessenzfeldes“, aus denen die neue dunkle Energie hervorgeht. (Vgl. Sheldrake 2012, S.88 und 101)

Ich habe übrigens nie so recht begriffen, was sich bei der Expansion des Weltraums eigentlich genau ausdehnt; denn einzelne Planeten-Stern-Systeme müssen ja vergleichsweise stabil sein. Dasselbe müßte auch für die Galaxien selbst gelten, die wiederum Galaxienhaufen bilden, also weitere in sich strukturierte Systeme mit ihrer eigenen einigermaßen stabilen Wechselwirkung. An welcher Stelle der Sternsysteme setzt also die Ausdehnung des Weltraums ein? Die Beispiele mit dem Luftballon, den man aufbläst, oder dem aufgehenden Hefekuchen zeigen nur, daß die Physiker ganz gut darin sind, einander Kindergeschichten zu erzählen.

Daß sich eine in der Vergangenheit liegende Ursache, etwa das Werfen eines Steines, auf dessen weiteres Verhalten im Gravitationsfeld auswirkt, so daß er nach dem Loslassen nicht gleich senkrecht, sondern in einer bogenförmige Flugbahn zu Boden fällt, kann man als eine Fernwirkung bezeichnen, die so etwas wie ein Gedächtnis beinhaltet. Der Stein ‚erinnert‘ sich gewissermaßen daran, was wir ihm angetan haben: er hat die Energie des Werfens ‚gespeichert‘. Das Gedächtnis ist eine weitere Funktion, die Sheldrake den morphogenetischen Feldern zuschreibt. Dieses Gedächtnis funktioniert in Form einer „Selbstresonanz“ (Sheldrake 2012, S.138). Das morphogenetische Feld steht mit seiner eigenen Vergangenheit in Resonanz.

Wir haben es also mit zwei Formen von morphischer Resonanz zu tun: (a) mit der Resonanz zwischen verschiedenen morphogenetischen Feldern, die auf nicht-lokale Weise miteinander wechselwirken, und (b) mit der Resonanz eines lokalen morphogenetischen Feldes, das mit seiner eigenen Vergangenheit (und Zukunft) wechselwirkt. Diese Vergangenheit kann sehr weit zurückreichen und über die individuelle Gegenwart eines einzelnen Organismus hinausgehen. Somit haben wir es auch hier mit einer nicht-lokalen Wechselwirkung zu tun. Nicht-lokal meint die Eigenschaft von Feldern, deren wechselwirkenden Kräfte mit der räumlichen (und zeitlichen) Entfernung nicht abnehmen.

Abschließend bleibt noch festzuhalten, daß nach Einstein die Gravitation eine Eigenschaft des Raumes ist und nicht von Körpern. Auch darin sieht Sheldrake eine Analogie zu morphogenetischen Feldern. Die morphogenetischen Felder enden nicht mit dem Tod eines Organismus, sondern gehen in eine Art kollektives Gedächtnis über: „Die Erinnerungen selbst müssen mit dem Tod des Körpers nicht untergehen, sondern können durch Resonanz weiter wirken, solange irgendwo ein schwingendes System besteht, mit dem sie in Resonanz treten können. Sie gehen in das kollektive Gedächtnis der Menschheit ein.“ (Sheldrake 2012, S.277)

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