„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 1. März 2013

André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980 (1964/65)

1. Graphismen
2. Menschheitskriterien
3. Rhythmus und Lebenswelt
4. Parallelen und Differenzen zum Körperleib
5. Parallelelen zur ‚Seele‘
6. Ein-Finger-Kommunikation

In meinem letzten Post zu Habermas (vom 24.02.2013) hatte ich zwischen einer rekursiven Argumentationsweise, die ihre Argumente bzw. Gründe ‚narrativ‘ auf verschiedenen Ebenen verteilt, und einer linearen Argumentationsweise unterschieden, die ihre Argumente in einer syntaktischen Reihe ‚semantisch verknüpft‘, also die Ebene des einfachen Satzes nicht verläßt. Dem rekursiven Verfahren hatte Habermas vorgeworfen, zu „anspruchsvoll“ zu sein (vgl. Habermas 2012, S.64f.), weshalb er an anderer Stelle die Rekursivität als einen nur „abgeleitete(n) Modus der Verständigung“ bezeichnet (vgl. Habermas 3/1985, Bd.1: S.371; vgl. auch meinen Post vom 19.01.2013).

Bei André Leroi-Gourhan, „Hand und Wort“ (1980), bin ich nun auf Stellen gestoßen, die den anspruchsvollen Charakter narrativer Techniken zwar bestätigen, diese aber ganz an den Anfang der menschlichen Sprach- und Kulturentwicklung stellen, denen gegenüber das lineare Verfahren der Schrift eine relativ späte Entwicklungsstufe darstellt. Von Leroi-Gourhans Analysen her liegt es näher, den auf das lineare Aneinanderreihen von Gründen ausgerichteten pragmatischen Konstruktivismus von Habermas eher als eine Folge der „Unterordnung des Graphismus unter die gesprochene Sprache“ zu beschreiben – im Sinne einer 1:1-Abbildung der hintereinander ausgesprochenen Silben und Wörter auf graphische Elemente (Buchstaben) –, die mit einer „Verarmung an Mitteln zum Ausdruck irrationaler Momente“ einhergeht. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.264)

André Leroi-Gourhan († 1986) ist ein französischer Paläontologe, der die Frage der Menschheitsentwicklung auf allen Ebenen des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses zu beschreiben versucht. Dieses Selbst- und Weltverhältnis unterteilt er in die Modi der Technik, der Sprache und der Kunst. So stellt also auch die Technik keine einfache instrumentelle Manipulation der materiellen Welt dar, sondern ist eng verwoben mit ‚ethnischen‘ bzw. kulturellen Formen der Selbstdarstellung. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.371-386)

Leroi-Gourhans Zugang zu seinem Thema umfaßt alle Bereiche der Wissenschaft und ist deshalb umfassend interdisziplinär: „Es mag sich wohl das Urteil aufdrängen, einem Werk, das die Hauptbereiche der Wissenschaft vom Menschen heranzieht, müsse es an Harmonie mangeln; ich habe diese Schwächen und Unvollkommenheiten während der Redaktion nur allzu deutlich bemerkt, seine Angreifbarkeit ist mir durchaus bewußt; aber wie hätte man ohne die Einbeziehung von Paläontologie, Sprache, Technik und Kunst herausarbeiten können, daß der Mensch ein Säugetier von gleichwohl einzigartiger körperlicher Organisation ist und von einem sozialen Körper umschlossen und verlängert wird, der wiederum Eigenschaften besitzt, die der Zoologie keinerlei Gewicht mehr in seiner materiellen Evolution belassen.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.39f.)

Unter „Graphismus“ – den er der gesprochenen Sprache gegenüberstellt – versteht Leroi-Gourhan eine Form des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses, die eine eigenständige imaginäre Welt neben die reale Welt stellt, die sie nicht einfach abbildet wie eine Photographie oder ein Portrait. Von Anfang an sind die Höhlen- und Felsmalereien, so Leroi-Gourhan, „abstrakt“: „... der Graphismus hat seinen Ursprung nicht in der naiven Darstellung der Wirklichkeit, sondern im Abstrakten. ... Von besonderem Interesse für unsere Fragestellung ist die Tatsache, daß der Graphismus nicht von einem Ausdruck ausgeht, der in einem gewissermaßen dienenden oder photographischen Verhältnis zur Wirklichkeit steht, daß er sich vielmehr in einer Zeitspanne von etwa 10.000 Jahren im Ausgang von Zeichen organisiert, die zunächst einmal nicht Formen ausgedrückt haben dürften. ... Aus diesen Überlegungen läßt sich der Schluß ziehen, daß die bildende Kunst in ihrem Ursprung unmittelbar mit der Sprache verbunden ist und der Schrift im weitesten Sinne sehr viel näher steht als dem Kunstwerk. Sie ist eine symbolische Umsetzung und nicht Abbild der Realität ...“ (Leroi-Gourhan 1980, S.240)

Der Graphismus gehört nicht etwa zur Schriftlichkeit im engeren Sinne, die vor etwa 5.000 Jahren einsetzt und die kulturelle Phylogenese des Menschen so sehr beschleunigt. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.244, 491; zur kulturellen ‚Explosion‘ vgl. auch meinen Post vom 18.11.2012) Der Graphismus selbst reicht weiter zurück in die Menschheitsgeschichte als die lineare Schrift und bildet das entscheidende Unterscheidungsmerkmal zwischen Menschen und Tieren: „... wenn man vom Werkzeug sagen kann, daß es auch bei manchen Tierarten vorkommt, und von der Sprache, daß sie lediglich eine Erweiterung der in der Tierwelt anzutreffenden Lautsignale sei, so gibt es bis zum Erscheinen des homo sapiens nichts dem Zeichnen und Lesen von Symbolen Vergleichbares.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.238)

Die symbolische Funktionsweise des Graphismus besteht nach Leroi-Gourhan darin, daß die abgebildeten ‚Figuren‘ –  Leroi-Gourhan spricht in diesem Zusammenhang immer von „Figuration“ – nicht einfach jede für sich mehr oder weniger realistisch ‚abgebildet‘ werden, sondern daß sie sich gruppieren: „Bison und Pferd nehmen das Zentrum der Fläche ein, Steinböcke und Hirsche umgeben sie auf beiden Seiten, Löwen und Nashörner nehmen den Rand der Fläche ein. Das gleiche Thema kann sich mehrfach in der gleichen Höhle wiederholen: Es findet sich, trotz seiner Variationen identisch, in einer Vielzahl von Höhlen.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.247)

Ähnlich werden in den Bilderschriften der Azteken, der frühen Ägypter und Chinesen nicht ‚Buchstaben‘ aneinandergereiht, sondern in Gruppen angeordnet: „In der Tat bieten sich die ältesten chinesischen Inschriften (aus dem 11. und 12. Jahrhundert vor unserer Zeit) wie die ersten ägyptischen Inschriften und die aztekischen Glyphen in Gestalt von Figuren dar, die zu Gruppen versammelt sind und den Gegenstand oder die Handlung mit einem Halo versehen, der den verengten Sinn, den die Worte in den linearen Schriften angenommen haben, weit übersteigt. Transkribiert man ngan (der Friede) und kià (die Familie) in Buchstabenschrift, so reduzieren sich die so hervorgegangenen Vorstellungsgehalte auf ihr Skelett. Vergegenwärtigt man dagegen die Vorstellung des Friedens, indem man eine Frau unter ein Dach setzt, so eröffnet man damit eine im eigentlichen Sinne mythographische Perspektive, weil darin weder die Transkription eines Lautes noch die piktographische Darstellung einer Handlung oder einer Qualität zum Ausdruck kommt, sondern die Verschränkung zweier Bilder, die mit der ganzen Tiefe ihres ethnischen Umfeldes ins Spiel kommen.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.256f.)

Nebenbei bemerkt: das Wort ‚Halo‘ könnte man auch mit ‚Hof‘ übersetzen, und steht so wiederum dem Feld-Begriff nahe. (Vgl. meinen Post vom 01.02.2013) Und insofern die ‚Worte‘ in der Bilderschrift einen größeren, weil ungenaueren Bedeutungshof haben und ihre Figurengruppen zu ‚Verschränkungen‘ bzw. ‚Überblendungen‘ führen, bewegen wir uns auch im Bereich der Blumenbergschen Metaphorologie. (Vgl. meine Posts vom 06.09. bis zum 10.09.2011; vgl. außerdem meinen Post vom 20.07.2011)

Der von Leroi-Gourhan angesprochene „Halo“ bildet eine „strahlenförmige“ Organisationsform von zusammengehörigen Bedeutungen. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.247) Dabei haben wir es nicht etwa mit einer veralteten Ausdrucksform zu tun, mit der wir in unserer wissenschaftlich-technologischen Zivilisation nichts mehr anfangen können. Tatsächlich operieren verschiedene wissenschaftliche Disziplinen auf der Ebene dieser Ausdrucksform: „Vorrangige Bedeutung erhält sie auch in jenen Wissenschaften, in denen die Linearität der Schrift ein Hindernis darstellt; die algebraische Gleichung und die Formeln der organischen Chemie vermögen den Zwang zur Eindimensionalität in Figuren zu überwinden“ (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.249) – Bei der organischen Chemie denke man z.B. an die Proteinfaltung, von der schon in meinem Post vom 04.02.2013 die Rede war.

In dem letzten ausführlichen Zitat ist auch von der „mythographischen Perspektive“ der Bilderschrift die Rede. Hierin kommt eine im Vergleich zur linearen Schriftlichkeit umgekehrte Verhältnisbestimmung von Graphismus und gesprochener Sprache zum Ausdruck. Hinter den Figurengruppen der Höhlen- und Felsmalereien steht ein „mündlicher Kontext“, der „in einem engen Zusammenhang mit der symbolischen Anordnung stand und dessen Werte räumlich reproduzierte“. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.247) ‚Mytho-graphisch‘ meint also eine Verschränkung mündlicher Texte mit graphischen Figuren. Die graphischen Figuren ‚fixieren‘ mythische Elemente, die Leroi-Gourhan auch als „Mythogramme“ bezeichnet. Verstanden werden können diese graphischen ‚Pflöcke‘ aber nur, wenn die zugehörigen Mythogramme auch erzählt werden.

Bei den frühesten graphischen Darstellungen wie den Höhlen- und Felsmalereien bis hin zu den aztekischen und ägyptischen Hieroglyphen und der chinesischen Schrift steht also das gesprochene Wort im Dienst der Zeichnungen, während bei der linearen Buchstabenschrift die Zeichen im Dienst des gesprochenen Wortes stehen. – Dabei muß allerdings angemerkt werden, daß Leroi-Gourhan das gesprochene Wort nur in seiner zeitlichen Dimension thematisiert: „Die Leistung der Schrift bestand eben darin, den graphischen Ausdruck durch die Verwendung der linearen Anordnung vollständig dem phonetischen Ausdruck unterzuordnen. ... Das Bild besitzt noch eine dimensionale Freiheit, die der Schrift stets fehlen wird ...“ (Leroi-Gourhan 1980, S.246)

Leroi-Gourhan unterschlägt hier die räumliche Dimension der Sprache, ihre  „Voluminosität“. (Vgl. meinen Post vom 15.07.2010) Die räumlichen Dimensionen behält er dem Graphismus vor, während „die phonetische Sprache“ das menschliche Selbst- und Weltverhältnis „in der einzigen Dimension der Zeit zum Ausdruck bringt“. (Leroi-Gourhan 1980, S.246). Und die „Buchstaben“ machen „aus dem Denken“ endgültig „eine buchstäblich eindringende Linie ..., eine Linie, die zwar von großer Reichweite, aber dünn wie ein Faden ist“ (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.249).

Davon abgesehen leuchtet mir aber die Umkehrung des Dienstverhältnisses von gezeichneter und gesprochener Welt durchaus ein. Die unterschiedlichen phylogenetischen Funktionen des Graphismus und der linearen Schrift, die Beschleunigung des Entwicklungsganges durch die lineare Schrift, werden von Leroi-Gourhan auf plausible, gut nachvollziehbare Weise dargestellt. Vor diesem Hintergrund jedenfalls ist es nicht mehr so einfach, die Rekursivität als einen zu anspruchsvollen, gegenüber der linearen Verkettung von Begründungszusammenhängen bloß abgeleiteten „Modus der Verständigung“ zu bezeichnen.

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