„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 2. März 2013

André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980 (1964/65)

1. Graphismen
2. Menschheitskriterien
3. Rhythmus und Lebenswelt
4. Parallelen und Differenzen zum Körperleib
5. Parallelelen zur ‚Seele‘
6. Ein-Finger-Kommunikation

Wenn Leroi-Gourhan von „Menschheitskriterien“ spricht (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.35-41), so sind damit nicht nur die sogenannten „Monopole“ gemeint, also anatomische und intellektuelle Merkmale, die den Menschen in seiner evolutionären Position einzigartig machen (vgl. meinen Post vom 15.05.2011). Leroi-Gourhan stellt auch immer wieder die Frage nach seinem Schicksal, also die Sinnfrage, etwa hinsichtlich des Übergangs von einem mehrdimensionalen zu einem linearen Graphismus und den damit einhergehenden Verlusten:
„Wenn man der Ansicht ist, der von der Menschheit bis heute verfolgte Weg sei ihrer Zukunft uneingeschränkt nützlich, d.h. wenn man in die bäuerliche Seßhaftwerdung mit allen ihren Konsequenzen ein vollständiges Vertrauen setzt, so kann man diesen Verlust eines mehrdimensionalen symbolischen Denkens nicht anders beurteilen als die Verbesserung des Laufvermögens der Pferde, die eintrat, als sich ihre drei Zehen auf einen einzigen reduzierten. Wenn man dagegen der Ansicht ist, der Mensch verwirkliche sich erst voll in einem Gleichgewicht, in dem er den Zugang zur Totalität der Wirklichkeit behielte, so kann man sich fragen, ob nicht das Optimum nur allzu schnell in dem Augenblick überschritten wurde, als der technische Utilitarismus in einer vollständig kanalisierten Schrift das Mittel einer unbegrenzten Entwicklung fand.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.264f.)
So bildet also der Graphismus nicht nur ein „Monopol“ in dem Sinne, daß zuvor noch kein Tier auf die Idee gekommen ist, seine vorderen Extremitäten zur Erschaffung einer imaginären Welt zu verwenden (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.238), sondern mit dem Graphismus stellt sich auch die Frage nach der Erfüllung unserer Menschlichkeit.

Insgesamt zählt Leroi-Gourhan eine recht große Menge von Merkmalen auf, die er ausschließlich dem Menschen zuspricht, und meine folgende Aufzählung ist deshalb wohl nicht vollständig. Es ist verblüffend, welche einfachen, simplen Merkmale Leroi-Gourhan als menschheitstypisch einordnet, so z.B. das rhythmische Schlagen: „Schon in den frühesten Entwicklungsstadien bestand eines der operativen Merkmale der Menschheit in der Anwendung oft wiederholter rhythmischer Schläge. Diese Operation markiert sogar als einzige den Eintritt des Australanthropus in die Menschheit, denn sie hat als Spuren die Choppers aus zerschlagenen Geröllsteinen und die polyedrischen Kugeln hinterlassen, die durch ausdauerndes Hämmern entstehen.“ (Leroi-Gourhan 1980,  S.384) – Den Begriff „Australanthropus“ benutzt Leroi-Gourhan als Sammelbezeichnung für Australopithecus, Plesiantrhopus, Paranthropus und Zinjanthropus. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.87) Leroi-Gourhan datiert also die „Menschheit“ – trotz des „unglaublich klein“ ausfallenden Gehirns, „daß es die Anatomen schon geniert“ (vgl. Leroi-gourhan 1980, S.88) – allein aufgrund rhythmischer Schlagtechniken auf 4 Millionen Jahre zurück.

Ein anderes, auffälligeres Merkmal ist der aufrechte Gang, dem gegenüber Leroi-Gourhan sogar die „Entwicklung des Gehirns“ als ein bloß „zweitrangiges Merkmal“ darstellt. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.36) Leroi-Gourhan zufolge bildet das Gehirn bloß ein „Korrelat des aufrechten Ganges“. (Vgl. ebenda) Beim aufrechten Gang haben wir es sogar mit einem regelrechten Merkmalskomplex zu tun, zu dem nicht nur das Gehirn gehört, sondern auch „die Wirbelsäule, das Gesicht und die Hand“, deren Entwicklungslinien „untrennbar miteinander verbunden“ sind. (Vgl. ebenda) Wir haben es also mit einer Ko-Evolution von Merkmalen zu tun, von denen keines für sich allein untersucht werden darf.

Diese Ko-Evolution beginnt mit der Aufrichtung des Menschen: „Der gemeinsame Ursprung von Affe und Mensch ist deutlich, sobald aber der aufrechte Gang gewonnen ist, kann man nicht mehr von Affen sprechen und folglich auch nicht von Halb-Menschen. Die durch die aufrechte Haltung beim Menschen geschaffenen Bedingungen führen zu neuro-psychischen Entwicklungen, die aus der Evolution des menschlichen Gehirns etwas anderes machen als die bloße Vergrößerung des Volumens. Das Verhältnis von Gesicht und Hand ist in der Entwicklung des Gehirns ebenso eng wie zuvor: das der Hand zugeordnete Werkzeug und die dem Gesicht zugehörige Sprache bilden nur verschiedene Pole der gleichen Einheit ...“ (Leroi-Gourhan 1980, S.36ff.)

In diesem Zitat fällt nicht nur die wiederholte Relativierung der neurologischen Perspektive auf das Gehirn auf, – insbesondere was die quantifizierende Bewertung seines Volumens betrifft. Es wird auch deutlich, in welcher Hinsicht der aufrechte Gang für die menschliche Evolution so bedeutsam geworden ist: er ermöglicht die Entwicklung eines zweipoligen Weltverhältnisses aus Gesicht und Hand, die einen ‚Spielraum‘ des Selbst- und Weltverhältnisses eröffnen, der an Plessners Körperleib erinnert: „Das Aufkommen graphischer Symbole gegen Ende der Herrschaft des Paläanthropus setzt die Einrichtung neuer Beziehungen zwischen den beiden kooperativen Polen voraus, die ein exklusives Merkmal des Menschseins im engen Sinne des Wortes bildeten, insofern es einem Denken entsprach, das in gleichem Maße symbolisierendes Denken war wie das unsrige. In diesen neuen Beziehungen erhält der Gesichtssinn eine Vorrangstellung in den Paaren Gesicht-Lesen und Hand-Zeichnen.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.237f.)

An den Plessnerschen Körperleib erinnert mich die zweipolige Bestimmung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses von Gesicht und Hand, weil hier das menschliche Bewußtsein unmittelbar von der körperlichen Anatomie her interpretiert wird, in der das Gehirn nur ein Organ unter einer Gesamtheit von Organen bildet: „Für uns ist es wegen des fehlenden Abstandes schwierig abzuschätzen, was die westliche Kunst einer bestimmten Konzeption des Lebens verdankt, die ihre Grundlage im Pakt zwischen dem Menschen und seinem Körper findet. Dagegen zeigt das klassische China, weil es uns diesen Abstand bietet und sicher auch weil es den Ausdruck dieses Paktes sehr weit getrieben hat, in seiner Lebensweise wie in seinen Werken die Kontinuität, die zwischen dem Grund und dem Gipfel besteht.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.355)

Der Hinweis auf „Grund“ und „Gipfel“ erinnert an die Plessnersche Pyramide (vgl. meine Posts vom 01.06.2011 und vom 30.01.2012), und auch Leroi-Gourhan verwendet dieses Bild, wobei er die Pyramide verdoppelt: er spricht von einer, von einer breiten biologischen Basis ausgehenden, sich zum Menschen hin verjüngenden Pyramide, an dessem Gipfelpunkt, dem homo sapiens, jetzt eine umgedrehte Pyramide ansetzt, sich in Form einer kulturellen Evolution fortsetzend und nach oben hin immer weiter verbreiternd. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.490f.)

Die Leroi-Gourhansche Version des Körperleibs beinhaltet also einen „Pakt“, eine unauflösliche Verschränkung körperlicher und psychischer Momente, die aus dem Körper mehr machen als nur einen mechanischen und physiologischen Apparat:
„Wenn das Knochenskelett auch im normalen Zustand nicht wahrgenommen wird, so ist die Muskelhülle doch der Ort wichtiger Eindrücke, und der osteo-muskuläre Apparat mag zwar nicht als Werkzeug verstanden werden, wohl aber als Instrument zur Situierung in der Existenz. Die Integration der Bewegungen, die im motorischen Hirnkortex erfolgt, müssen wir als intellektuelle Operation beiseite lassen. Dagegen können wir auf den paläontologischen Zusammenhang verweisen, der zwischen dem Innenohr und dem osteo-muskulären Apparat beim Gleichgewicht des Individuums hinsichtlich seiner Umwelt, bei den unmittelbaren Wahrnehmungen und in der Organisation der Bewegungen besteht.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.355)
Auch hier schränkt Leroi-Gourhan die Bedeutung einer neurophysiologischen Verortung des Körpermodells im Gehirn ein und hebt die psychische Dynamik der körperlichen Bewegungen selbst hervor. Wir haben es nicht nur mit einem Apparat zu tun, sondern mit einer Haltung. (Vgl. meinen Post vom 31.12.2010) Denn wo wir uns über unseren Körper in einer Existenz situieren, wird er mehr als nur ein Instrument, ein Objekt, – er wird zur Mitte, zum Leib: „Das normale Funktionieren des gesamten intellektuellen Apparates ist an die organische Infrastruktur gebunden, und das nicht nur hinsichtlich eines guten oder schlechten Körperbefindens, sondern in jedem Augenblick des Lebens, in den Rhythmen, die das Individuum in Raum und Zeit integrieren.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.356)

Das zweipolige Verhältnis von Gesicht und Hand führt also zu einer graphischen und zu einer mündlichen Verdopplung der Welt, so daß sich nicht mehr nur eine symbolische und eine materielle Welt gegenüberstehen. Wir haben es vielmehr mit zwei verschiedenen Formen der Symbolisierung zu tun, die zueinander in einem Spannungsverhältnis stehen. Zunächst diente das mündliche Wort in Form des Mythos zur Kommentierung von Höhlen- und Felsmalereien, die wiederum mehrdeutige Gedächtnisstützen darstellten, dann diente der lineare Graphismus bzw. die Schrift der Speicherung des gesprochenen Wortes, die sich der „Strenge“ des ebenfalls linearen Rechnens annäherte: „... aus Symbolen mit dehnbaren Implikationen wurden Zeichen, wirkliche Werkzeuge im Dienste eines Gedächtnisses, in das die Strenge des Rechnens Eingang fand.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.253).

Neben einer anatomischen Relativierung der Bedeutung des Gehirns fällt auch auf, daß die Sprache bei Leroi-Gourhan nirgendwo eindeutig als Menschheitskriterium bezeichnet wird. Er ordnet die mündliche Sprache dem Gesicht zu, und wenn vom Gesicht die Rede ist, ist im Rahmen des zweipoligen Verhältnisses immer zugleich auch von der Hand die Rede. So steht die mündliche Sprache immer schon in einer Relation zum Graphismus, den Leroi-Gourhan – in enger Verbindung mit der Sprache – dann in erster Linie zum Menschheitskriterium macht. Und erst der lineare Graphismus, also die Schrift, steht als „Instrument“ des „Aufstiegs“ der „großen Zivilisationen“ (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.261) am Anfang einer exponentiellen Beschleunigung der Menschheitsentwicklung, – nicht die mündliche Sprache.

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