„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 24. März 2013

André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980 (1964/65)

7.    Nachtrag: Stillstand und Bewegung

In diesem Blog war schon vom Unterschied zwischen Künsten und Medien die Rede gewesen. Friedrich Kittler hatte zwischen Standards und Stilen differenziert und damit einen prinzipiellen Unterschied zwischen beiden postuliert. Wo Kunststile vor allem die Individualität des Menschen zum Ausdruck bringen, zielen Medienstandards darauf, die Sinnesfunktionen nachzuahmen und den Menschen so über die Realität zu täuschen. (Vgl. meinen Post vom 30.04.2012)

Etwas ganz Ähnliches kann man bei Leroi-Gourhan lesen. Leroi-Gourhan spricht von einer „funktionellen Approximation“, in der das „Bild“ dazu tendiert, mit der „Realität“ möglichst vollständig übereinzustimmen. Der „ideale() Punkt“ ist dort erreicht, wo sich das Kunstwerk „nicht mehr vom Modell unterscheidet“.  (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.468)

Aber es ist nicht nur diese Ähnlichkeit zu den Kittlerschen Medienanalysen, die mich veranlaßt, einen Nachtrag zu meinen Kommentaren zu Leroi-Gourhan zu schreiben. Für sich genommen würde diese scheinbare Parallele zwischen Leroi-Gourhan und Kittler auch nicht so sehr auf eine Differenz als vielmehr auf eine Gleichartigkeit von Medien (Technik) und Künsten hinauslaufen: nämlich auf die gemeinsame Tendenz in Richtung auf einen immer größeren Realismus in der Abbildung von Realität auf der einen Seite und in Richtung auf eine immer größere Realitätsbeherrschung auf der anderen Seite. Die eigentliche Differenz zwischen Medien und Künsten stellt Leroi-Gourhan tatsächlich etwas anders dar als Kittler.

Zunächst einmal bleibt festzuhalten, daß Leroi-Gourhan die Menschheitsentwicklung als einen fortlaufenden Prozeß der Exteriorisierung von Fähigkeiten beschreibt, die wir – anders als die Tiere – nicht in körperlichen Organen ‚einverleiben‘, so daß zum Beispiel aus fünf Fingern am Ende ein Huf wird, wie beim Pferd. Statt ihre Hand in einen Hammer oder in eine Schere zu verwandeln, erfinden die Menschen Faustkeile und Feuersteinmesser. Die Exteriorisierung von Fähigkeiten trägt also dazu bei, daß der Mensch „durch die Vermeidung jeder Überspezialisierung seiner Organe“ (Leroi-Gourhan 1980, S.332) offen bleibt für weitere Entwicklungen.

Die ganze Technikgeschichte stellt also einen fortlaufenden Prozeß der Exteriorisierung und Differenzierung von immer neuen Fähigkeiten dar. Werkzeuge und Medien – ‚Medium‘ ist nur ein anderes Wort für ‚Werkzeug‘ – treten an die Stelle der köperlichen Organe und ersetzen sie im zunehmenden Maße. Ersetzen Hämmer und Zangen die menschliche Hand und Messer die menschlichen Zähne, so ersetzen ‚Medien‘ im Kittlerschen Sinne die Sinnesorgane. Kittler zitiert z.B. ein Wort von Edgar Morin, demzufolge die Kinoleinwand eine „nach außen gestülpte Netzhaut“ bildet. (Vgl. Kittler 1986, S.186; vgl. auch meinen Post vom 09.04.2012)

Die Fortschrittsgeschichte der menschlichen Techniken und Medien ist dabei eine materialgebundene, was sich auch in der Benennung der frühen Zeitalter widerspiegelt: Stein-Zeit, Bronze- bzw. Kupfer-Zeit, Eisen-Zeit. Geht es zunächst nur um das Material für Werkzeuge als Ersatz für menschliche Organe, so geht es im weiteren Verlauf der Menschheitsentwicklung um die Exteriorisierung von motorischen Fähigkeiten, also um Energie und Bewegung, wobei zunächst auch hier wieder vor allem die Materialien im Vordergrund stehen: Tiere und Maschinen als Ersatz für menschliche Muskelkraft und Wasser, Wind, Kohle, Öl, Elektrizität etc. als Antriebsenergien.

Einen weiteren riesigen Schritt vorwärts in der Technikentwicklung bildet die Exteriorisierung des Gehirns mit Hilfe der Informationstechnologien. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.311, 331f.) Angemerkt sei hier, daß der von Leroi-Gourhan beschriebene Vorgang der Exteriorisierung seine Möglichkeitsbedingung in der von Plessner beschriebenen exzentrischen Positionalität des Menschen hat. Stünde der Mensch nicht schon sich selbst gegenüber, als einem für sich selbst Äußeren, also als bloßem Objekt in der Welt, so könnte er auch nicht einzelne Organe und Fähigkeiten in Form von Techniken exteriorisieren.

Diese ganze Fortschrittsgeschichte ist also eine materialgebundene Fortschrittsgeschichte. Mit der Entdeckung und Entwicklung von immer neuen Materialen waren immer auch Quantensprünge in der Technikentwicklung verbunden. Die Technik eröffnet hier die Perspektive einer unendlichen, linearen Fortschrittsgeschichte der zunehmenden Perfektion, so daß dem Menschen die inhumane Perspektive einer biologischen Perfektionierung, wie sie Leroi-Gourhan am Beispiel von Ameisengesellschaften und Bienenvölkern beschreibt, bislang erspart geblieben ist.

Allerdings deutet sich hier schon ein Unbehagen an: denn, so Leroi-Gourhan, „(w)ir müssen uns wirklich fragen, ob die Menschheit völlig jener Gefahr entgangen ist ...“ (Leroi-Gourhan 1980, S.442; vgl. auch S.428f.) Zwar hat es die technische Exteriorisierung von Fähigkeiten dem Menschen ermöglicht, sich die Freiheit einer individuellen, nicht auf bestimmte Funktionen festgelegten Ontogenese zu bewahren, aber es scheint so zu sein, „daß die Freiheit des Individuums nur eine Etappe darstellt, und die Domestikation von Zeit und Raum letztlich zu einer vollkommenen Unterwerfung sämtlicher Teile des supra-individuellen Organismus führen wird.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.429)

Im weiteren Verlauf dieser Technikgeschichte droht der Mensch letztlich doch noch zu einer „spezialisierten Zelle“ in einem „sozialen Organismus“ zu werden: „Die beständige Suche nach stärkeren und präziseren Mitteln mußte notwendig zum biologischen Paradoxon des Roboters führen, der die menschliche Phantasie angesichts der Automaten schon seit Jahrhunderten beflügelt.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.310) – Das Idealbild dieser technologischen Entwicklung ist nicht mehr der Mensch, etwa im „spirituelle(n) Bild des Engels oder des glorreich verklärten Körpers“ sondern das „mechanische Ebenbild des Anthropoiden“. (Vgl. ebenda)

Dieser Entwicklungslogik von Techniken und Medien steht nun die Entwicklungslogik der Künste gegenüber. Anders als die lineare, approximativ unendliche, in der Abschaffung des Menschen gipfelnde Technikgeschichte ist die Entwicklungslogik der Künste zyklisch und endlich. Die Kunst richtet sich nicht auf die Beherrschung der Natur, sondern auf die „Wahrnehmung von Rhythmen und Werten.“ (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.449) Das beinhaltet zunächst, daß ihre Entwicklung weniger einen Prozeß der Konstruktion darstellt, als vielmehr einen „Reifungsprozeß“ (Leroi-Gourhan 1980, S.468), der einen Anfang und ein Ende hat, an den sich ein neuer Zyklus des Reifungsprozesses anschließt. (Vgl. ebenda)

Die zyklische Entwicklungslogik der Kunst wird durch die Entwicklung neuer Materialen allenfalls etwas verlängert, bleibt aber letztlich von diesen Materialien selbst unabhängig, weil die dem Menschen von Natur aus zur Verfügung stehenden Ausdrucksmittel wie Ocker oder Mangan für die Farben und Haare für der Herstellung von Pinseln von Anfang an zur Verfügung standen und seine Werke deshalb „hinsichtlich der Ausdrucksmittel nicht hinter dem heutigen Menschen zurückstehen.“ (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.456) Deshalb bezeichnet Leroi-Gourhan die Kunst als „ein besseres Maß für die Menschheit als die Technik“. (Vgl. ebenda)

An dieser Stelle bleibt uns Leroi-Gourhan aber eine weitere notwendige Differenzierung schuldig. Es ist nicht einzusehen, warum ein Faustkeil, technisch gesehen, weniger perfekt sein sollte als eine Schreibmaschine oder ein Computermonitor. Die Intelligenz des Menschen kommt – unabhängig vom Material – im Faustkeil genauso vollständig zum Ausdruck, wie in einem Ornament oder in der Nachbildung von Bisons und Pferden.

Der eigentliche Unterschied wird von Leroi-Gourhan angedeutet, wenn er von „Ausdrucksmitteln“ spricht. Technische Mittel richten sich auf die Beherrschung der Natur. Ausdrucksmittel richten sich aber auf die expressive Natur des Menschen selbst. Und diese hat sich tatsächlich vom Beginn der Menschheit an bis heute nicht verändert. Die expressive Natur des Menschen, sein ständiger Versuch, vor sich selbst verständlich zu werden, ist von den verwendeten Materialen letztlich unabhängig, und sie entwickelt sich nicht mit der Entwicklung neuer Materialien unendlich weiter. Die „Kunst kann sich lange Zeit im Kreise drehen“, schreibt Leroi-Gourhan. (Leroi-Gourhan 1980, S.461) Die Kunst gehört zu der „frühesten Entwicklung von homo sapiens“ (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.448) und ist als „figurative(s) Verhalten“ „derart tief mit der Qualität des Menschen verbunden, daß man es nur schwer einer systematischen Betrachtung unterziehen kann, ohne seine Realität zu verflüchtigen“ (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.438).

Was Leroi-Gourhan hier beschreibt, entspricht der expressiven Ambivalenz der Seele, wie sie Plessner auf den Punkt gebracht hat: die Seele entzieht sich ihrem Ausdruck, je mehr wir versuchen, sie präzisierend zu erfassen. Sie will sich, so Plessner, nicht ‚berühren‘ lassen. (Vgl. meinen Post vom 14.11.2010) Leroi-Gourhan selbst beschreibt diese Ambivalenz, der die Kunst dient, als das jedem Entwicklungszyklus der Kunst inhärente Ende: „Mit Ausnahme der Meisterwerke wird der Gewinn an Präzision durch eine Erstarrung der in den Werken mitgeteilten Eindrücke erkauft, die Geschicklichkeit erhält wachsende Bedeutung, und in einem irreversiblen Prozeß wird die Kunst zunehmend akademisch und fade.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.468)

Zwar ist diese Stelle auf das Verhältnis von Bild und Realität bezogen, in der das Bild in seiner Abbildfunktion technisch immer perfekter wird. Aber die von Leroi-Gourhan empfundene Fadheit solcher im technischen Sinne ‚präzisen‘ Kunst bezieht sich doch vor allem auf das Fehlen jeglichen seelischen Ausdrucks.

Die paläolithische Kunst bildet für Leroi-Gourhan ein perfektes, gut dokumentiertes Stadium der Menschheitsentwicklung, um die zyklische Entwicklungslogik der Kunst quasi unter Laborbedingungen zu studieren: „Die Entwicklung des Realismus in der paläolithischen Kunst zeigt – buchstäblich im Zeitlupentempo und unter idealen Bedingungen, denn die kulturellen Interferenzen sind schwach oder gar nicht vorhanden –, daß die bildliche Darstellung einem Reifungsprozeß unterliegt, dessen Etappen an ein der technischen Erfindung ähnliches Phänomen gebunden sind; die Kumulation graphischer oder plastischer Innovationen ist auf eine immer engere Annäherung an die exakte physische Darstellung ausgerichtet.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.468)

Das „Zeitlupentempo“ bezieht sich auf die Jahrzehntausende, über die sich der Entwicklungszyklus der paläolithischen Kunst erstreckt, während ‚moderne‘ Kunstzyklen sich nur über wenige Jahrzehnte oder sogar Jahre erstrecken. Und die „idealen Bedingungen“, also die Laborbedingungen, beziehen sich auf die wechselseitige Isolation der wenigen, weitverstreuten Menschengruppen, so daß die im eurasischen Raum verteilten Fundorte von Skulpturen und Felsmalerien mehr Rückschlüsse auf das allgemeine Wesen des Menschen ermöglichen, als wenn diese Menschengruppen damals schon in einem der modernen Infrastruktur gleichenden täglichen und stündlichen Informationsaustausch gestanden hätten.

Jeder Entwicklungszyklus der Kunst endet also im Realismus, von dem aus als Umschlagspunkt dann „andere Künste“ zu „neuen Zyklen“ aufbrechen. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.468) Der Anfangspunkt der Kunst, und das läßt sich eben gerade in der paläolithischen Kunst so schön beobachten, liegt im Abstrakten und Symbolischen. Abstrakt und symbolisch sind die regelmäßigen in Knochen eingeritzten Rillen und die seltsamen Formen von Materialien (Muscheln, Steine etc.), die die Menschen zu Beginn der Menschheitsentwicklung sammelten und die ihr Interesse an Formen und Rhythmen zum Ausdruck bringen: „Die präfigurative Periode umfaßt die ersten Manifestationen: die Sammlung von Kuriositäten, gravierte parallele Striche, Reihen von Vertiefungen und die vielfältige Verwendung von Farbstoffen freilich ohne Bildzeugnisse. ... Die rhythmischen Markierungen gehen den eigentlichen Figuren voraus, aber die Figuren integrieren sich durch Addition, so als handelte es sich um einen einzigen fortschreitenden Kontext, der sich in den visuellen Symbolen explizierte. ... Wir können die ersten bekannten Manifestationen der Kunst nur ‚primitiv‘ nennen. Die primitive Kunst beginnt also im Abstrakten, ja sogar noch im Präfigurativen.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.456ff.)

Die weitere Entwicklung führt von diesen gleichzeitig abstrakten wie symbolischen Reminiszenzen an „Rhythmen und Werte()“ (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.449), in denen „expressive Details“ wie Phallus, Vulva und Kopf – pars pro toto – für ein Ganzes stehen (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.458), zu einer immer realistischeren Darstellung der Objekte. So beginnt die paläolithische Kunst bei einem abstrakten „Nullpunkt der Bilder, die sich als abstrakte Ansammlungen präsentieren, und entwickelt sich individuell hin zum photographischen Realismus, ohne daß die Komposition mehr als Konsistenz in den Figuren erreichte. Das folgende Stadium, in dem die Komposition ein narratives Gerüst erhält, beginnt erst zu dem Zeitpunkt, da die paläolithische Kunst verschwindet.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.477f.)

Diese Schlußbemerkung ist noch einmal besonders interessant, weil sie auf einen seltsamen Aspekt der paläolithischen Kunst verweist, den Schrott/Jacobs als ein spezielles, poetologisches Merkmal von Gedichten beschreiben: die Zeitlosigkeit bzw. den Stillstand oder den Mangel an Bewegung. (Vgl. meinen Post vom 25.07.2011) Die paläolithische Kunst stellt nur Konfigurationen zusammen; sie erzählt keine Geschichten, in denen etwas passiert. Das ist gemeint, wenn Leroi-Gourhan vom fehlenden „narrativen Gerüst“ spricht. Insofern habe ich in meinem ersten Post zu Leroi-Gourhan vom 01.03.2013 einen Fehler gemacht, als ich von den „narrativen Techniken“ gesprochen habe, die ganz am Anfang der menschlichen Sprach- und Kulturentwicklung gestanden hätten.

Ich hatte das Narrative an den von Leroi-Gourhan beschriebenen Figurengruppen auf die dreidimensionale Darstellungsform bezogen, die es ermöglicht, verschiedene Ausdrucksebenen ‚rekursiv‘ aufeinander zu beziehen. Rekursivität gehört für mich zur Narrativität, weil die erzählerischen Darstellungsmittel die Fähigkeit des Menschen unterstützen, sich einen komplexen Sinnkontext auf individuelle Weise anzueignen. Dabei habe ich den Unterschied zwischen Stillstand und Bewegung bislang immer vernachlässigt und bin nur an der Stelle darauf eingegangen, wo es darum ging, zwischen Mathematik und Kommunikation zu unterscheiden. Dort hatte ich dann die Informationstechnologien, die mathematische Algorithmen in Form beweglicher Bilder auf Monitore übertragen, als narrative Mathematik bezeichnet, weil sie etwas eigentlich Zeitlosem und Statischem, eben mathematischen Formeln, ‚Zeit‘ bzw. ‚Bewegung‘ hinzufügen. (Vgl. meinen Post vom 31.08.2011)

Im Rahmen dieses Blogs werde ich deshalb weiterhin den Begriff der Narrativität verwenden, wenn es darum geht, sowohl Rekursivität wie auch zeitliche Dynamik als anthropologische Möglichkeitsbedingungen darzustellen.

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