„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 8. März 2013

André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980 (1964/65)

1. Graphismen
2. Menschheitskriterien
3. Rhythmus und Lebenswelt
4. Parallelen und Differenzen zum Körperleib
5. Parallelelen zur ‚Seele‘
6. Ein-Finger-Kommunikation

Zum Schluß möchte ich noch einmal auf eine Stelle in Leroi-Gourhans Buch eingehen, deren Mutmaßungen über das Schicksal des Menschen an die Medienanalysen von Günther Anders und Friedrich Kittler erinnern. (Vgl. meine Posts vom 23.01. bis zum 29.01.2011 und vom 08.04. bis zum 03.05.2012) Nachdem Leroi-Gourhan den Verlust des Gleichgewichts zwischen Gesicht und Hand und seine kulturellen und neuro-psychischen Implikationen als eine Folge des Wechsels vom mehrdimensionalen zum eindimensionalen, alphabetischen Graphismus beschrieben hat (vgl. meinen Post vom 01.03.2013), wendet er sich den audiovisuellen Medien des 20. Jahrhunderts zu.

Zunächst hält Leroi-Gourhan fest, daß trotz der kulturellen Verarmung der linearen Schriftlichkeit gegenüber der mehrdimensionalen Bildersprache die Buchstabenschrift dem Individuum doch eine gewisse Freiheit, einen „Spielraum“ der Visualisierung und damit auch der Deutung des Geschriebenen läßt. Die Schrift beläßt dem lesenden Individuum den „Vorteil“ einer „Interpretationsanstrengung“. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.265) Mit den audiovisuellen Medien geht auch dieser Deutungsspielraum verloren:
„Der Stummfilm veränderte die herkömmlichen Bedingungen nicht merklich; der stumme Bildstreifen stützte sich auf unbestimmte, lautliche Ideogramme, die von einer Musikbegleitung geliefert wurden und den Spielraum zwischen dem vorgestellten Bild und dem Individuum bewahren. Die Bedingungen wandelten sich erst grundlegend mit dem Tonfilm und dem Fernsehen: sie mobilisieren gleichzeitig die visuelle Wahrnehmung der Bewegung und die akustische Wahrnehmung und erfordern die passive Beteiligung des gesamten Wahrnehmungsbereiches. Die Bandbreite individueller Interpretation findet sich hier in extremem Maße reduziert, weil das Symbol und sein Inhalt sich in einem Realismus verschmelzen, der auf höchste Perfektion zielt, und weil auf der anderen Seite die so geschaffene reale Situation dem Zuschauer keinerlei Möglichkeit eines aktiven Eingriffs beläßt. Diese Situation unterscheidet sich von der eines Neandertalers, weil sie vollkommen zwanghaft und passiv ist, und auch von der eines Lesers, weil sie ein totales, d.h. visuelles und auditives Erlebnis ist. Unter diesem doppelten Aspekt erscheinen die audiovisuellen Techniken als neue Stufe in der menschlichen Evolution, als eine Stufe, die den Kern des Menschen trifft, das reflektierende Denken. Aus sozialer Perspektive bedeutet das Audiovisuelle fraglos eine Errungenschaft, denn es gestattet eine präzise Information und wirkt auf die informierte Masse in einer Weise ein, die deren sämtliche Interpretationsmöglichkeiten eliminiert. Darin folgt die Sprache der allgemeinen Evolution des kollektiven Überorganismus und entspricht damit der immer vollkommeneren Konditionierung der individuellen Zellen.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.266)
Wenn Leroi-Gourhan hier von der „höchsten Perfektion“ audiovisueller Techniken spricht, die den „Kern des Menschen“ betrifft, erinnert das an Andersens prometheische Scham des Menschen über seine biologische Unvollkommenheit angesichts der Vollkommenheit der Technik. (Vgl. meinen Post vom 23.01.2011) Wenn Leroi-Gourhan im weiteren Textverlauf auf die Arbeitsteilung „zwischen einer schmalen Elite, als einem Organ intellektueller Verarbeitung, und den Massen, die zu bloßen Aufnahmeorganen geworden sind“ und vom „Prozeß der Vorverdauung“ durch die Medienelite spricht (vgl. Leroi Gourhan 1980, S.267), erinnert das an Andersens Darstellung der Rundfunkmedien, die die Wirklichkeit ‚arrangieren‘ (vorverdauen), bevor sie in die Wohnstuben der Konsumenten ausgestrahlt wird (vgl. meinen Post vom 24.01.2011).

Wenn Leroi-Gourhan vom totalen, visuellen und auditiven Erlebnis in höchster Perfektion spricht, so erinnert das auch an Friedrich Kittlers Analyse, daß der eigentliche Zweck der Medien darin liege, die ‚Menschen‘ zu täuschen, wobei er vom ‚Menschen‘ nur noch in Anführungsstrichen spricht (vgl. meinen Post vom 29.04.2012). Was Kittler als eine technologische Errungenschaft feiert, beklagt Günther Anders: der Mensch sei zum „Phantom“ geworden. Und auch Leroi-Gourhan ist nicht gerade glücklich über das „Dilemma“, in dem sich die kulturelle Evolution des Menschen befindet, am Umschlagspunkt einer Entwicklung vom „Individuum als Motor eines sozialen Mikrokosmos, der nach seinem Maß gestaltet ist und in dem er selbst das ganze Spektrum seiner ästhetischen und technischen Möglichkeiten entfaltet“ zum „Individuum als bloßem Element, als Rädchen im grenzenlos perfektionierbaren Mechanismus einer total sozialisierten Gesellschaft.“ (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.440)

Seine Bemerkung über die Evolution, die sich mehr für die „Menschheit“ interessiert „als für den einzelnen Menschen“ (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.317), wirft ein erhellendes Schlaglicht auf den evolutionären Antihumanismus in Niklas Luhmanns Systemtheorie, derzufolge die Gesellschaft nicht aus Menschen besteht. Anstatt sich in solcherlei misanthropischen Zynismen zu verlieren, geht es Leroi-Gourhan zufolge „entschieden darum, den Menschen in einer hinreichend qualifizierten sapiens-Situation zu halten und eine Entmenschlichung zu verhindern, die für den Output der sozialen Maschinerie berechenbar würde“ (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S. 440f.).

Wer nun meint, wir hätten es hier wiedermal mit einem allzu bekannten Stereotyp des Kulturpessimismus zu tun, der seit Rousseau – eigentlich sogar schon seit Platon – alle Medien als Verkümmerungsformen des Denkens diffamiert, sollte zuvor berücksichtigen, daß sich hier mit Leroi-Gourhan eine Entwicklungslinie abzeichnet, die direkt in unsere heutigen Kommunikationsmedien gipfelt. Beklagt sich schon Leroi-Gourhan über den Verlust der ‚Handfertigkeit‘ im Gebrauch beider Hände und der ‚Fingerfertigkeit‘ aller zehn Finger in einer Welt, in der ein einzelner Finger reicht, um mit ihm auf „Knöpfe“ zu drücken (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.319), so brauchen wir nur an die Kommunikationsform des SMS oder den Touchscreen zu denken, um zu verstehen, wieso Leroi-Gourhan befürchtet, daß mit dem Verlust der Hand auch die spezifische Menschlichkeit unseres Denkens verloren zu gehen droht. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.320)

Vor wenigen Tagen sprach mich ein Kollege aus unserer Schule darauf an, daß sich seine Schüler nicht mehr selbst reflektieren können. Sie beschäftigen sich nur noch mit ihren technischen Surrogaten, auf deren miniaturisierten Bildschirmen sie mit ihren Fingern herumwischen, befangen in einem Bann, der keinen Raum mehr läßt für das freie Schweifen der Blicke.

An dem Problemzusammenhang ändert auch der Hinweis auf das chemische Ungleichgewicht in der Pubertät nichts. Denn als Entwicklungshilfen bieten wir unseren Kindern und Jugendlichen an der Schwelle zum Erwachsenwerden keine Initiationsriten, sondern Ipods, Handys und Tablets etc. Ob wir es hier mit einer „hinreichend qualifizierten sapiens-Situation“ zu tun haben, darf bezweifelt werden

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