„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 24. April 2013

Norbert Bolz, Das Gestell, München 2012

1. Elliptische Argumentation
2. Blumann und Luhmenberg
3. Konvergenz statt Interdisziplinarität
4. Benutzerillusionen
5. Rückkopplung: positiv?
6. Gesellige Technik
7. Körperleibvariationen
8. Der Unternehmerführer

Norbert Bolz bezeichnet Blumenberg und Luhmann als „die beiden bedeutendsten deutschen Denker der Nachkriegszeit“. (Vgl. Bolz 2012, S.14) Bei Blumenberg möchte ich ihm rechtgeben, bei Luhmann schon weniger. Luhmann bricht mir das menschliche Selbst- und Weltverhältnis zu sehr auf einfache, binäre Algorithmen herunter und setzt das menschliche Sinnstreben mit Kybernetik gleich. Ich verstehe nicht, was daran ‚bedeutend‘ sein soll; es sei denn, man bewundert Luhmann einfach nur für seinen skrupellosen Antihumanismus.

Deshalb finde ich es besonders ärgerlich, daß Bolz in einem Atemzug mit Luhmann Blumenberg nennt, der nun wirklich kein Antihumanist ist und immer den Menschen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt hat und der in seinem großen philosophischen Vermächtnis, den „Höhlenausgängen“ (1989), die Anthropologie zur neuen philosophischen Königsdisziplin erklärt. (Vgl. meinen Post vom 12.07.2012) Bolz hingegen erweckt den Eindruck, als unterwerfe sich Blumenberg genauso wie Luhmann dem maschinenförmigen Zeitgeist, und nimmt seine zahlreichen ironischen Wendungen gegen diesen Zeitgeist für bare Münze. Solche subtilen Ironien vermengt das Gestell zu einem einzigen kybernetischen Einheitsbrei aus lauter Blumanns und Luhmenbergs.

Bolz widmet sein Buch konsequenterweise einem weiteren Antihumanisten: Friedrich Kittler. (Vgl. Bolz 2012, S.12f.; zu Kittlers Antihumansimus vgl. meine Posts vom 08.04. und vom 27.04.2012) Auch hier versucht er, Kittler und Blumenberg zitattechnisch zu einer hybriden Doppelidentität zu verschmelzen: ein Verweis auf Kittler mündet in ein Zitat, das von Blumenberg stammt (vgl. Bolz 2012, S.16), was erst der umständliche Blick in den Anmerkungsapparat verrät (vgl. Bolz 2012, S.120). Wer sich diese Nachprüfung erspart, muß den Eindruck gewinnen, daß Kittler der Urheber des von Blumenberg stammenden Zitates sei.

Das große Thema der Luhmannschen Systemtheorie besteht in der Frage nach dem Umgang mit Komplexität. Da die Systemtheorie eine Maschinentheorie ist, hat sie ein Problem mit der Komplexität. (Zum Unterschied zwischen Biologen und Ingenieuren im Umgang mit Komplexität vgl. meinen Post vom 01.04.2013) Luhmann geht allerdings etwas differenzierter an dieses ‚komplexe‘ Thema heran als viele seiner Nachfolger. Er verbindet die Frage nach der notwendigen Reduktion von Komplexität mit der Frage nach der nicht minder notwendigen Erhaltung von Komplexität und beantwortet diese beiden Fragen mit der doppelten Negation.

Sinnstiftung besteht Luhmann zufolge darin, Komplexität zu reduzieren, also zu ‚verneinen‘ und zugleich diese Verneinung zu verneinen und damit zu erhalten: Komplexitätsreduktion auf Vorbehalt. Luhmann zeigt damit, daß er durchaus verstanden hat, daß ‚Sinn‘ ursprünglich eine Bewußtseinsfunktion ist. ‚Sinn‘ hat die Struktur eines Sinns von Sinn, bildet also eine Ganzheit aus Vordergrund und Hintergrund. (Vgl. meinen Post vom 07.07.2011) Der Vordergrund bildet eine Abhebung (Reduktion/Negation) vom Hintergrund, und der Hintergrund bildet den Kontext, den Verweisungszusammenhang (Komplexität) des Vordergrunds. Dieses Verhältnis zwischen beiden beschreibt Luhmann als doppelte Negation.

Indem Luhmann den menschlichen Sinn durch die Überführung in einen binären Code für seine Maschinentheorie tauglich macht, verwandelt er die Bewußtseinsphilosophie in eine Informationstheorie. ‚Aufmerksamkeit‘ wird zu einer Funktion der Speicherkapazität des Gehirns. Norbert Bolz verweist entsprechend auf die „knappe und konstante Ressource Aufmerksamkeit“, die uns dazu nötigt, „mit begrenzten Kapazitäten der Informationsverarbeitung zu rechnen“. (Vgl. Bolz 2012, S.44) – Was von Luhmanns dialektischer Problemformulierung einer gleichzeitigen Reduktion und Erhaltung von Komplexität bleibt, ist das Problem einer notwendigen Komplexitätsreduktion aufgrund begrenzter Speicherkapazitäten.

Wenn Ingenieure – und entsprechend die Systemtheorie – ein Problem mit Komplexität haben, dann vor allem, weil sie sie nur als ‚Störung‘ wahrnehmen. Und wie wir von Friedrich Kittler wissen, ist ‚Störung‘ letztlich nichts anders als Rauschen. Und das ist wiederum Luhmanns Definition für ‚Umwelt‘. Systeme verstehen ihre ‚Umwelten‘ nicht: diese Umwelten rauschen nur. Und aus dem Rauschen muß ‚Sinn‘ herausgefiltert werden: Komplexität muß reduziert werden.

Anthropologie und Maschinentheorie befinden sich einfach nicht auf derselben begrifflichen Ebene, wie Norbert Bolz sehr wohl weiß, wenn er von der „vollkommen desanthropomorphisierten Wissenschaft“ spricht. (Vgl. Bolz 2012, S.16) Man kann ‚Sinn‘ nicht einfach in einen Algorithmus überführen, weil Algorithmen keine Sinnstruktur beinhalten. Aufmerksamkeit gehört zur Wahrnehmung mit ihren Vorder- und Hintergründen und bildet deshalb eine Bewußtseinsfunktion. Die Informationsverarbeitung beruht auf Algorithmen. Das hat mit Aufmerksamkeit nichts zu tun. Folglich kann das eine auch nicht durch das andere kompensiert bzw. miteinander ‚verrechnet‘ werden. Durch Informationsverarbeitung wird also Aufmerksamkeit nicht etwa freigesetzt – nach dem Motto: je mehr Komplexitätsreduktion, um so mehr Zeit für andere Dinge –, sondern sie wird nur abgelenkt. Indem sich unsere Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtet, wendet sie der Informationsverarbeitung den Rücken zu, von wo aus diese jetzt zu fungieren und so unsere Aufmerksamkeit zu steuern beginnt.

Von nun an befassen wir uns ‚aufmerksam‘ nur noch mit den Problemen, die mit der Informationsverarbeitung kompatibel sind. Das heißt, wir beginnen „im Umgang mit den Maschinen ..., diejenigen Aufgaben zu bevorzugen, die sich mit diesen Maschinen lösen lassen.“ (Vgl. Bolz 2012, S.31) – Indem wir zulassen, daß ‚intelligente‘ Maschinen für uns die Komplexität reduzieren, bestimmen diese Maschinen, wofür wir uns von nun an interessieren können bzw. welche Vordergründe wir vor welchen Hintergründen fokussieren.

Das Problem besteht also darin, daß wir ständig ‚Komplexität‘ mit ‚Rauschen‘ verwechseln, aus dem wir den eigentlichen ‚Sinn‘ erst herausfiltern müssen, ohne noch zu bemerken, daß dieses sogenannte ‚Rauschen‘ selbst schon sinnhaft ist. Die Komplexität ist selbst schon Sinn, weil Sinn immer komplex ist, auch dort wo er ‚einfach‘ oder ‚schlicht‘ zu sein scheint. Sinn hat immer schon die Struktur eines Sinnes von Sinn, also von Vordergrund und Hintergrund. Ohne die Komplexität des Hintergrundes könnte uns der Vordergrund nichts ‚bedeuten‘.

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