„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 25. April 2013

Norbert Bolz, Das Gestell, München 2012

1. Elliptische Argumentation
2. Blumann und Luhmenberg
3. Konvergenz statt Interdisziplinarität
4. Benutzerillusionen
5. Rückkopplung: positiv?
6. Gesellige Technik
7. Körperleibvariationen
8. Der Unternehmerführer

Bolz zeigt mit aller dankenswerten Deutlichkeit, wie sehr ein Begriff wie die Interdisziplinarität zu einer veralteten Wissenschaftsauffassung gehört, in der es noch so etwas wie ‚Natur‘-Wissenschaften und ‚Geistes‘-Wissenschaften gab. Der „kunstvolle Reduktionismus der modernen Forschung“ läßt nicht nur mit dem ‚Geist‘ die Geisteswissenschaften verdorren, sondern treibt auch die ‚Natur‘ aus den Naturwissenschaften aus. (Vgl. Bolz 2012, S.91) Längst geht es in den Naturwissenschaften nicht mehr darum, Wissen über die Natur zu sammeln. An die Stelle des Wissens tritt das Know-How: „Man muss die Sache nicht verstehen, um sich auf sie zu verstehen.“ (Bolz 2012, S.58)

Anstatt die Naturphänomene zu erklären, reicht es, sie zu simulieren: „Die Informatik ersetzt die Physik als Fremdreferenz der Mathematik. Es sind ja nicht mehr Wirklichkeitsbefunde, sondern Computersimulationen, die überhaupt erst die Fraktale Geometrie, die Chaos-Theorie und die Theorie komplexer Systeme ermöglicht haben. Der Computer ist hier zum Medium einer empirisch-experimentellen Mathematik geworden.“ (Bolz 2012, S.84)

Um die verschiedenen Wissenschaftsgebiete zusammenzuführen, „bedarf es gar keiner übergreifenden, alles erklärenden Theorie“ mehr (vgl. Bolz, 2012, S.91). Es reicht, sie auf die kleinsten Elemente „Bits, Atome, Neuronen und Gene“ (Bolz 2012, S.90) zurückzuführen, um die ehemaligen Disziplinen beliebig kombinierbar zu machen. An die Stelle der altehrwürdigen Interdisziplinarität tritt die „Konvergenz der Spitzentechnologien“: „Wissenschaftler betrachten heute die Welt als Hierarchie komplexer Systeme, die ihre absolute Basis auf der Nanoebene haben. So brechen die alten Unterscheidungen, die die Welt geordnet haben, zusammen – sogar die zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen.“ (Bolz 2012, S.90)

In einer computerisierten Welt, in der alles, worauf es ankommt, algorithmisierbar sein muß, reicht es also, vor die herkömmlichen Fachbegriffe ein Präfix zu setzen: Neuro-Anthropologie, Neuro-Philosophie, Neuro-Theologie, Neuro-Linguistik, Neuro-Didaktik usw.usf., und wir haben allen heutigen Ansprüchen an Interdisziplinarität genügt. Eigentlich sind also Begriffe wie ‚Wissenschaft‘ und ‚Universität‘ nur noch Etiketten, denen keine Inhalte mehr entsprechen, und insofern sind die Bologna-Reformen in Deutschland nur auf eine besonders konsequente Weise umgesetzt worden. Nur vor der pauschalen Umbenennung der altehrwürdigen Bildungseinrichtungen in Technische Hochschulen ist man noch zurückgeschreckt.

Die Forschung bildet nur noch den Transmissionsriemen im Räderwerk aus „Technik, Wissenschaft und Industrie“ (Bolz 2012, S.35), eine Form „technische(r) Kreativität“ (Bolz 2012, S.102), auf die der Kapitalismus „Prämien“ für ihre „wirtschaftliche Verwertbarkeit“ aussetzt (vgl. Bolz 2012, S.66) und für die „die moderne Gesellschaft“ den „Preis“ zahlen muß (vgl. Bolz 2012, S.56). Statt den ‚Phänomenen‘ auf den Grund zu gehen, verwandelt man sie in ‚Produkte‘. (Vgl. Bolz 2012, S.40, 102) Aus dem der Wahrheit verpflichteten Wissenschaftler wird ein Ingenieur: „Neuzeitliche Technisierung heißt, dass man von den Eigenqualitäten der Dinge abzusehen lernt und sie einem souveränen Konstruktionsprozess unterwirft. Hinter der Mathematisierung und Formalisierung aller wissenschaftlich-technischen Prozesse steckt letztlich die generelle Frage des absoluten Ingenieurs: Wie produziert man ein X?“ (Bolz 2012, S.34)

Wenn Bolz beschreibt, wie der heutige Wissenschaftler zum Bastler geworden ist, der „probiert, was geht, d.h. was von der Wirklichkeit toleriert wird“, wird einem klar, daß diese Bastlermentalität längst zu einem über die ‚Wissenschaft‘ hinausreichenden kulturellen Trend geworden ist. Charisius/Friebe/Karberg (2013) sprechen von der „STEM-Bildung“, „also Science, Technology, Engineering and Mathematics“ (Charisius/Friebe/Karberg 2013,  S.84). Auch die Biohacker-Szene vollzieht also nur auf bewußtlose Weise Funktionsmechanismen des Gestells nach, und mein Appell ans „Selber-Denken“ war entsprechend naiv. (Vgl. meinen Post vom 02.04.2013) Auch das Wort „Bürgerwissenschaft“ müßte im Lichte der Bolzschen Analysen noch einmal gründlich hinterfragt und entsprechend neu begründet werden.

Die von Bolz beschriebenen Entwicklungslinien erinnern an Günther Anders, und seine Analysen führen zu einem ähnlichen Ergebnis, demzufolge „selbst die extremste Bewusstseinsform der Moderne, der Nihilismus“, nur noch „als Selbstbehauptung durch technischen Konstruktivismus“ erscheint. (Vgl. Bolz 2012, S.38f.) Analog zu Andersens „Antiquiertheit des Menschen“ spricht Bolz deshalb von der „Antiquiertheit seines Leibes“ (Bolz 2012, S.95), worauf ich in einem der folgenden Posts noch einmal zu sprechen kommen werde. Vorerst soll es genügen, darauf hinzuweisen, daß es genau diese ‚Antiquiertheit‘ ist, auf die ich meine Hoffnung hinsichtlich einer Zukunft des Menschen setze. Der Mensch ist ein Anachronismus, in dem sich die verschiedenen Entwicklungsebenen, aus denen er hervorgegangen ist, zu einem Ganzen bündeln: dem nicht algorithmisierbaren Ganzen einer Menschlichkeit, die sich dem konstruierenden Zugriff der Ingenieure entzieht.

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