„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 28. April 2013

Norbert Bolz, Das Gestell, München 2012

1. Elliptische Argumentation
2. Blumann und Luhmenberg
3. Konvergenz statt Interdisziplinarität
4. Benutzerillusionen
5. Rückkopplung: positiv?
6. Gesellige Technik
7. Körperleibvariationen
8. Der Unternehmerführer

Der von Bolz hochgelobte Blumenberg ist in den „Höhlenausgängen“ (1989) der Ansicht, daß es nicht so sehr an der Zeit sei, einen Neuen Bund mit der Technik zu schließen (vgl. Bolz 2012, S.90-98), sondern der Philosophie einen neuen Schwerpunkt zu geben: die Anthropologie. (Vgl. meinen Post vom 12.07.2012) Auch Bolz legt seinem Neuen Bund eine Anthropologie zugrunde, die gleichermaßen an die exzentrische Positionalität von Plessner wie an die Metaphorologie von Blumenberg erinnert: „Der Mensch ist von Natur aus ein Anderer – seine Natur ist künstlich. Er kann sich also nicht aus sich selbst begründen. Die Metapher ist die Natur des Menschen, das heißt, die Rhetorik ist die Anthropologie. Mit anderen Worten, der Satz, dass die Sprache rhetorisch ist, und der Satz, dass der Mensch technisch ist, besagen dasselbe.“ (Bolz 2012, S.60)

Während aber bei Plessner der Künstlichkeit der menschlichen ‚Natur‘ eine expressive Doppelaspektivität zugrundeliegt, in der der Mensch sich in seinen Äußerungen, in denen er sich zu finden sucht, immer nur verfehlt, und bei allem verzweifelten Bestreben, vor sich selbst verständlich zu werden, doch davor zurückschreckt, erkannt zu werden,

... und während bei Blumenberg die Metaphorologie eine Theorie der Unbegrifflichkeit darstellt, die das genaue Gegenteil des mathematischen Glaubens bildet, daß „alle Dinge“ „Zahlen“ seien (vgl. Bolz 2012, S.78),

... führt bei Bolz die Künstlichkeit der menschlichen Natur auf direktem Wege zum „Cloning“ als Teil einer neuen, idealistischen ‚Anthropologie‘, die mit Hilfe der „kybernetischen Biologie“ das „menschliche Verhalten vollständig zu formalisieren“ vermag (vgl. Bolz 2012, S.94), und die Metapher bildet nur ein technisches Mittel der Manipulation von Bewußtseinsfunktionen.

Statt die Anthropologie angesichts des Gestells auf eine neue Weise ernstzunehmen, wie es Blumenberg in seinen „Höhlenausgängen“ vormacht, erklärt Bolz die menschliche Evolution für beendet: „Der Mensch ist kein Gattungswesen mehr. ... aus dem Menschen kann biologisch nichts mehr werden.“ (Bolz 2012, S.41) – An die Stelle der biologischen Evolution tritt eine technische Evolution, für die die Menschen – nach einem Wort von McLuhan – nur noch die Funktion von „Sexualorgane(n) der Maschinenwelt“ übernehmen. (Vgl. Bolz 2012, S.31) Ansonsten hat sich der „Prozess der Technisierung aller Lebensverhältnisse ... längst von der Natur des Menschen emanzipiert. Seine Evolution verläuft nicht mehr über die Bahnen seiner Neuronen, sondern seiner technischen Operationen ... Technische Selbstbehauptung ist der spezifisch menschliche Ersatz der organischen Anpassung.“ (Vgl. Bolz 2012, S.41)

Das menschliche Individuum, an dessem Verhalten Mutabilität und Selektivität der biologischen Evolution angesetzt hatten und über das die Entwicklung der Gattung als Ganzer vermittelt gewesen war – auch bei Darwin ist von ‚Arten‘ immer nur vermittelt über Individuen die Rede: wären im Laufe der Evolution nicht ganze Reihen von Individuen (missing links) ausgestorben, hätten sich auch keine Arten herausgebildet –, ist nun durch eine ‚Menschheit‘ ersetzt worden, die sich als ‚Gesellschaft‘ nur noch technisch (systemtheoretisch) definiert: „Seit die Menschheit völlig von Technik abhängig ist, macht es keinen Sinn mehr, Technik von Humanität zu unterscheiden.“ (Bolz 2012, S.48)

In diesem Sinne spricht Bolz vom Menschen vor allem als „Magnus Homo“ (vgl. Bolz 2012, S.25, 31, 64, 93 u.ö.), dem Gegenbild zum Homunculus, von dem in diesem Blog auch schon öfter die Rede gewesen ist (vgl.u.a. meine Posts vom 27.07.201215.08.2012 und vom 02.02.2013). Sucht man den eigentlichen ‚Menschen‘ als Homunculus in einer Gehirnfunktion oder in den Genen, so sucht man beim Magnus Homo den eigentlichen Menschen im Staat (vgl. Bolz 2012, S.64 u.ö.) bzw. in der Gesellschaft (vgl. Bolz 2012, S.104).

So wie die technische Evolution nicht mehr über den Körper des individuellen Menschen vermittelt ist – es sei denn als bloßes Sexualorgan –, wird der Neue Bund Bolz zufolge auch nicht mehr zwischen der Technik und ihrem ‚User‘ geschlossen, sondern zwischen der Technik und der Gesellschaft: „Der Neue Bund versteht die Technik als Organ der Gesellschaft, nicht als Organ des Menschen. Im Gestell organisiert sich der Kollektivleib. Und das muss man sich ganz konkret als Trainingsprogramm und Testreihe vorstellen.“ (Bolz 2012, S.104)

Deshalb gibt es auch keinen Gegensatz mehr zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, wie ihn Ferdinand Tönnies und Helmuth Plessner beschrieben haben: „Gemeinschaft ist nicht mehr das Gegenteil von Gesellschaft. Die virtuellen Gemeinschaften und sozialen Netzwerke verbinden die Vorteile von Gemeinschaft und Gesellschaft. ... Es ist die große kulturelle Verheißung der Zukunft, dass wir nach den Etappen der archaischen Stammesgemeinschaft und der modernen ‚Entfremdung‘ nun wieder vor einer neuen Gemeinschaftsform stehen: der von elektronischen Netzwerken getragenen Nachbarschaft.“ (Bolz 2012, S.118)

Um zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft überhaupt noch irgendeinen Unterschied zu machen, müßte das Individuum selbst noch eine Rolle spielen. Aber an die Stelle der starken Bindungen der Gemeinschaft treten die schwachen Bindungen der sozialen Netzwerke im Internet: „In den meisten sozialen Systemen sind schwache Bindungen effektiver als starke Bindungen ... Je intimer eine Beziehung ist, desto weniger informativ ist sie. Man kann die Stärke einer Bindung an Zeitaufwand, emotionaler Intensität und Wechselseitigkeit ablesen. Freundschaft ist eine starke Bindung, aber von Bekannten darf ich mir mehr Informationen versprechen als von Freunden.“ (Bolz 2012, S.115)

Der Neue Bund, von dem Bolz uns vorschwärmt, bildet einen Bund schwacher Bindungen, also eher eine Bündelung als einen Bund. Weit entfernt davon, das zu bedauern, besteht Bolz zufolge die Stärke dieser Schwäche in ihrer Realitätstauglichkeit: „Das lässt sich natürlich als Gefühlsschwäche auslegen. Aber wenn man bedenkt, dass jedes starke emotionale Engagement unsere Mobilität und Flexibilität einschränkt, dann muss man zugeben, dass Gefühlsschwäche in der modernen Welt durchaus realitätsgerecht ist.“ (Bolz 2012, S.116)

In der geselligen Technik trifft sich also der eingangs erwähnte ‚anthropologische‘ Idealismus einer vollständigen Formalisierbarkeit des menschlichen Verhaltens mit dem Realismus einer als Effektivität ausgelegten Gefühlsschwäche des im „Linking, Tagging, Bookmarking und der Erstellung von Playlists“ unermüdlichen Volkes. (Vgl. Bolz 2012, S.113)

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