„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 15. April 2013

Zwischen Expressivität und Referentialität

Amelie Sjölin, Schrift als Geste. Wort und Bild in Kinderarbeiten, Neuried 1996

1. Methode: jenseits von wahr oder falsch
2. Gesten, Spuren und Narben
3. Symbolisierungsweisen

Es gibt auch in der Erziehungswissenschaft Doktorarbeiten, die nach knapp zwanzig Jahren noch lesenswert sind! An der Doktorarbeit von Amelie Sjölin liegt es jedenfalls nicht, wenn sich die DGfE um das öffentliche Erscheinungsbild der Erziehungswissenschaft Sorgen machen muß. (Vgl. die aktuelle Homepage) Sjölins Buch „Schrift und Geste“ (1996) gibt mir deshalb nicht nur den Anlaß, mich noch einmal der Frage nach der kulturellen und individuellen Bedeutung der Schrift für die phylogenetische und ontogenetische Entwicklung des Menschen zuzuwenden, sondern auch die Gelegenheit, den prekären methodischen Status einer Wissenschaft hervorzuheben, die den jungen Menschen in seiner Entwicklung zum Gegenstand hat.

Amelie Sjölin bezweifelt, daß es angesichts der Tatsache, daß „sich die historischen Bedingungen menschlicher Erfahrung ständig ändern“, ein „universell gültiges Schema für die menschliche Entwicklung“ geben könne. (Vgl. Sjölin 1996, S.102) Auch das Schreiben- und Lesenlernen stellt Sjölin zufolge keinen im herkömmlichen Sinne zu verstehenden Entwicklungsprozeß dar, nach dem „Trägerraketenmodell“ (Horst Rumpf), demzufolge frühere Phasen „sinnlos und überflüssig“ werden, wenn das Entwicklungsziel erreicht worden ist. (Vgl. Sjölin 1996, S.107) Vielmehr gehe es um die „Entfaltung“ der in den verschiedenen Symbolisierungsweisen von Bild und Wort liegenden Entwicklungspotentiale (vgl. Sjölin 1996, S.108): „Die verschiedenen Modi des Symbolisierens werden nicht unabhängig voneinander, einer nach dem anderen erlernt, sondern sind von Anfang an miteinander verflochten ...“ (Sjölin 1996, S.92)

Hier wird deutlich, daß Sjölin ihrer Arbeit kein informationstheoretisches Modell der menschlichen Entwicklung zugrundelegt, wie es zur Zeit die Entwicklungspsychologie dominiert und das darin gipfelt, das Sprechenlernen als einen statistischen Prozeß zu beschreiben. (Vgl. hierzu meine Posts vom 19.07., 24.07.2011 und vom 06.06.2012) Sjölin bezieht sich auf Margaret Donaldson (1982), derzufolge die linguistische Perspektive auf die Sprache dazu neige, die Sprache als ein „formales“ System zu verstehen, so daß der Schritt zu der Annahme, daß die Sprache auch auf eine formale Weise gelernt werde, gefährlich nahe liege. (Vgl. Sjölin 1996, S.93)

Insbesondere Sjölins Forschungsthema sperrt sich dem Anspruch formalisierbarer und experimentell wiederholbarer Zugangsweisen: „Einzelne Kinderarbeiten werden als Dokumente individueller symbolisierender Prozesse interpretiert, um den Blick auf Schrift zu sensibilisieren und das Verhältnis zwischen sprachlichem und bildlichem Symbolisieren in bezug auf Schrift zu untersuchen. ... Die einzelnen Auslegungen sind nicht exemplarisch in dem Sinne, daß die Symbolisierungsweise eines Kindes sich genau so bei anderen wiederholte. So wie Ole ... bewerkstelligt kein anderer die Schreibprobe.“ (Sjölin 1996, S.37)

Aber nicht nur die einzelnen Dokumente, denen sich Sjölin interpretierend zuwendet, sind individuell hinsichtlich ihrer Symbolisierungsweise, auch der ‚Zugriff‘ der Interpretin selbst fügt sich keinem formalwissenschaftlichen Standard: „Es kommt auf den Versuch an, einen Prozeß des sich schriftlich artikulierenden Kindes imaginativ nachzuvollziehen. Die auf dem Papier fixierten Spuren körperlicher und geistiger Bewegung sind Anhaltspunkte für eine interpretierende Rückübersetzung, für den Versuch, sich in die Situation hineinzuversetzen, der Transformation des Kindes nachzuspüren.“ (Sjölin 1996, S.29)

Die Interpretation der Kinderarbeiten bildet also einen ergebnisoffenen „Dialog“: „Ihr Verlauf ist nicht von Anfang an abzusehen, jedenfalls ist er nicht allein durch das, was in der Kinderarbeit zu sehen ist, bestimmt.“ (Sjölin 1996, S.28) – Hier stellt sich das Problem der Objektivität, denn die Freiheit, die die Forscherin hier für sich in Anspruch nimmt, verführt natürlich auch dazu, in die Kinderarbeiten alles mögliche hinein zu interpretieren. Sjölin verweist deshalb auf die Forschungsgruppe und auf Seminare, in denen die verschiedenen interpretativen Zugänge zu den Kinderarbeiten einen wechselseitigen Abgleich ermöglichten. (Vgl. Sjölin 1996, S.13f.)

Letztlich aber muß festgehalten werden, daß es für den Umgang mit Zeichnungen und Kritzeleien als entwicklungsgeschichtlich frühen Spuren des kindlichen Sinnstrebens „keinen Code und kein Meßverfahren gibt“. (Vgl. Sjölin 1996, S.29) Als „Gütekriterium hermeneutischer Auslegung“ kann Sjölin zufolge nur die aus ihr hervorgehende „Sinnfülle“ gelten: „... schlechte Interpretationen sind nicht ‚falsch‘, sondern leer.“ (Vgl. Sjölin 1996, S.36)

Sjölin bewegt sich bei ihren Interpretationen von Kinderarbeiten auf der Ebene der Analyse von Fallbeispielen, die in der Pädagogik eine zentrale methodische Bedeutung haben. Ich hatte darauf schon in anderen Posts mit einem Verweis auf Günther Bucks „Lernen und Erfahrung“ (3/1989) hingewiesen. (Vgl.u.a. meine Posts vom 09.09.2011 und vom 26.07. und 05.09.2012) Günther Buck hebt ebenfalls hervor, daß die Funktion von Beispielen nicht darin liegt, Theorien zu falsifizieren oder zu verifizieren, also zwischen falsch und wahr zu entscheiden, sondern auf Ideen zu bringen. Beispiele helfen dem Heuristiker in der Forschung wie dem Praktiker in der Praxis dabei, Problemzusammenhänge zu verstehen. Und in der Lehre verhelfen sie dem Studierenden wie dem Schüler zu einem persönlichen Bezug zum Lerngegenstand. Ein Großteil der erziehungswissenschaftlichen Arbeit dreht sich also um das Finden, Er-Finden und Deuten von Beispielen. In dieser Tradition des Deutens von Beispielen bewegt sich auch Amelie Sjölin.

Zum Schluß möchte ich diesen Post aber nicht beenden, ohne einen Einspruch zu erheben: Sjölins Bemerkung, daß es kein „universell gültiges Schema für die menschliche Entwicklung“ geben könne (vgl. Sjölin 1996,S.102), stimme ich zwar zu; sie beinhaltet aber bei Sjölin eine relativistische Tendenz. Sjölin verstärkt diesen Relativismus noch, indem sie Leroi-Gourhans Feststellung aufgreift, daß man über Entwicklungsprozesse keine Werturteile fällen solle (vgl. Sjölin 1996, S.120), und im weiteren Verlauf die Leroi-Gourhansche Kritik an den audiovisuellen Medien, die das Verhältnis „zwischen Körper und Geist, zwischen Technizität und Sprache“ (Sjölin 1996, S.120) aus dem Gleichgewicht gebracht haben, am Beispiel der Befreiung der individuellen Handschrift aus der mittelalterlichen, bis in die Neuzeit hineinreichenden „Körperdisziplin“ in Frage stellt. (Vgl. Sjölin 1996, S.126)

Sjölin schwankt hier zwischen einer Anerkennung der Leroi-Gourhanschen „Skepsis gegenüber dem Weg, den der Mensch eingeschlagen hat“, die sie als „hochaktuell“ bezeichnet (vgl. Sjölin 1996, S.120), und einer Faszination für die neuen computeranminierten Möglichkeiten, die lineare Schriftlichkeit des Buchzeitalters, das sich nun als eine bloße Zwischenstufe der Schriftlichkeit erweist, zu überwinden: „Schrift erscheint überall, Computeranimation bringt sie in Bewegung, macht sie zu einer flüchtigen Erscheinung und darin der Lautsprache ähnlich, die ihrerseits durch elektronische Tonaufzeichnung verfügbarer und damit der Schrift ähnlicher geworden ist.“ (Sjölin 1996, S.115)

Ich hätte mir im Sinne des Spur-Gedankens, der die ganze Arbeit von Sjölin durchzieht, eine größere Entschiedenheit für die Materialität der Schrift gewünscht, in der der Körper seine Spuren hinterläßt. Denn wie Sjölin selbst festhält: „Vor dem Bildschirm reduziert sich die Aufgabe des Körpers auf die Bedienung von Tasten ...“ (Sjölin 1996, S.125)

Dann nämlich erscheint die Frage, die die Autorin am Ende ihrer Arbeit stellt, vor einem kritischeren Hintergrund, der allzu schnelle, letztlich bloß beschwichtigende Antworten verwehrt: „Viel grundsätzlicher ist die Frage zu stellen, wie Sprechen, Lesen, Schreiben und bildnerisches Gestalten in der Schule mit den Sprach-, Bild- und Schrifterfahrungen der Kinder zusammenpassen, die mit den uns neuen Medien aufwachsen.“ (Sjölin 1996, S.143)

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