„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 17. April 2013

Zwischen Expressivität und Referentialität

Amelie Sjölin, Schrift als Geste. Wort und Bild in Kinderarbeiten, Neuried 1996

1. Methode: jenseits von wahr oder falsch
2. Gesten, Spuren und Narben
3. Symbolisierungsweisen

Unter dem „Primat der Sprache“ (Sjölin 1996, S.7) gilt nur die Sprache als symbolisierendes Medium. Das gilt auch schon für die beiden Begründer der modernen Hermeneutik, für Friedrich Schleiermacher (vgl. Sjölin 1996, S.33) und für Wilhelm von Humboldt (vgl. Sjölin 1996, S.44): „Er (Schleiermacher – DZ) bestimmt die Grenzen der Hermeneutik so, daß sie ‚es immer nur mit dem in der Sprache Produzierten zu tun haben kann‘ ... . Sprache ist für Schleiermacher die Voraussetzung fürs Denken und somit Grundlage für alle anderen Funktionen des Geistes. Er unterscheidet zwar eher bild- und eher formelhafte Gedanken ..., fragt aber nicht nach der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit, Bilder zu interpretieren.“ (Sjölin 1996, S.33)

Amelie Sjölin spricht von mindestens zwei Symbolisierungsweisen, wie schon aus dem Titel ihres Buches hervorgeht: von Bild und Wort. Tatsächlich sind es aber viel mehr, denn schon beim ‚Wort‘ müssen wir zwischen einer schriftlichen und einer mündlichen Symbolisierungsweise unterscheiden. Hinzu kommt noch, neben der Stimme, eine weitere leibgebundene Symbolisierungsweise wie die Geste. Die Geste definiert Sjölin als eine „symbolisierende Bewegung des Körpers“, die „etwas in Szene“ setzt. (Vgl. Sjölin 1996, S.7) Das folgende Zitat beinhaltet eine umfassende Definition für das, was Sjölin als „Symbolisierungsweisen“ bzw. als „Symbolisierungsmodi“ bezeichnet:
„‚Rhythmus‘, ‚Geste‘ und ‚enaktive und ikonische Modalitäten‘ bezeichnen körperhaft-sinnliche Symbolisierungsweisen, die sich von abstrakter begrifflicher Verarbeitung unterscheiden. ‚Rhythmus‘ ist bei Krötzsch mit reiner Bewegungsfreude und körperlicher Nachahmung verbunden, während sein Gegenpol, die ‚Form‘, begriffliche Inhalte formuliert. Die ‚Geste‘ symbolisiert für Wygotski eine bestimmte Handlung oder eine Einstellung zu etwas und drückt auf körperhaft-sinnliche Weise aus, was am anderen Pol geschriebene Sprache auf begrifflich distanzierte Art mitteilt. Die körperhaft-sinnlichen Symbolisierungsweisen werden als die entwicklungsgeschichtlich frühen verstanden, die Entwicklung als ein Prozeß, der vom Körper ausgeht und zunehmend Distanz schafft zwischen Körper und Symbolisiertem.“ (Sjölin 1996, S.106)
Allen Symbolisierungsweisen liegt ein „Subjekt“ (Sjölin 1996, S.27) zugrunde, das in Sjölins Buch meistens Kinder im Grundschulalter sind, die gerade lesen und schreiben lernen. Als weitere ‚Symbolisierungssubjekte‘ nennt Sjölin die Gesellschaft bzw. die Kultur (vgl. Sjölin 1996, S.49) oder biologische Antriebskräfte (vgl. Sjölin 1996, S.96), so daß wir es hier mit drei verschiedenen ‚Symbolisierungs‘-Ebenen zu tun haben, die eine phylogenetische Perspektive eröffnen: „Nicht nur in ontogenetischer, auch in phylogenetischer Hinsicht – insbesondere vor dem Hintergrund technologischer und gesellschaftlicher Veränderungen, die sich auch auf den Umgang mit der Schrift auswirken() – ist mehr Klarheit über Grundlagen des menschlichen Symbolisierungsvermögens wünschenswert.“ (Sjölin 1996, S.13)

Von einer biologischen ‚Symbolisierungsebene‘ kann natürlich nur in Anführungsstrichen gesprochen werden, da wir es bei Symbolisierungsprozessen immer mit Sinnstiftungsprozessen zu tun haben, also unter Beteiligung eines wachen, fokussierten Selbstbewußtseins: „Die Kinder schreiben etwas Wesentliches von sich; sie erproben Sinn, setzen Zeichen, schaffen Beziehungen zwischen Zeichen, eignen sich etwas an. Sie erfahren, wie Sinn entsteht.“ (Sjölin 1996, S.26) – Wenn sich in diese kindliche Kreativität immer auch Gesellschaftliches und Kulturelles hineinmischt, dann haben wir es hier mit der von Tomasello beschriebenen Wechselseitigkeit individueller und kultureller Lernprozesse zu tun. (Vgl. meinen Post vom 24.05.2011)

Symbolisierungsmodi sind also mit allen Ebenen der Menschheitsentwicklung verknüpft, der biologischen, kulturellen und individuellen Ebene; und aktuell erleben wir, wie neue digitale Symbolisierungsmodi in Form animierter Computergraphiken hinzukommen: „Schrift erscheint überall, Computeranimation bringt sie in Bewegung, macht sie zu einer flüchtigen Erscheinung und darin der Lautsprache ähnlich, die ihrerseits durch elektronische Tonaufzeichnung verfügbarer und damit der Schrift ähnlicher geworden ist.“ (Sjölin 1996, S.115)

Diese historischen Veränderungen, wie wir sie schon einmal mit der Erfindung des Buchdrucks erlebt haben, veranlassen Sjölin zu der Feststellung, daß „es kein universell gültiges Schema für die menschliche Entwicklung geben“ könne. (Vgl. Sjölin 1996, S.102) – Diese Aussage möchte ich allerdings so nicht stehen lassen. Es gibt ganz klare biologische Grundlagen für das menschliche „Symbolisierungsvermögen“ (Sjölin 1996, S.13), wie sie von Plessner und Leroi-Gourhan beschrieben werden. Wenn die technologische Entwicklung über diese biologischen Grundlagen hinwegschreiten sollte und sich diese biologischen Grundlagen also verändern sollten – sowohl aufgrund bewußter bio-technologischer Eingriffe wie auch aufgrund veränderter lebensweltlicher Mechanismen –, so würde das bislang gültige Schema für die menschliche Entwicklung nicht mehr gelten. Soweit stimme ich Sjölin zu.

Wir könnten dann aber überhaupt nicht mehr von einer spezifisch menschlichen Entwicklung sprechen! Mit der Möglichkeit von Hybridbildungen allerart, zwischen den Tieren, zwischen Tieren und Menschen, zwischen Menschen und Maschinen, würde die bisherige Gattungsbezeichnung homo sapiens überflüssig werden. Es gäbe schlicht keinen Referenten mehr, auf den sich dieser Begriff noch beziehen könnte. Es besteht also mehr denn je Anlaß, sich über dieses „Schema“ des Menschlichen verstärkt Gedanken zu machen. Das hat nichts mit Kulturpessimismus zu tun, sondern schlicht und einfach mit Achtsamkeit und Aufmerksamkeit.

Sjölin spricht von den körperlich-sinnlichen Symbolisierungsmodalitäten wie Rhythmik und Gestik, die auf das Papier übertragen werden. Darauf möchte ich zum Schluß gerne noch einmal zu sprechen kommen, weil es einige Stellen gibt, die eine Ahnung dafür wecken, was es für das Kind beim „Kritzeln und Zeichnen“ (Sjölin 1996, S.96) bedeutet, zu erfahren, „wie Sinn entsteht“. (Vgl. Sjölin 1996, S.26) Es folgt noch einmal ein längeres Zitat:
„Im Einzelnen deutet er (Wolfgang Grözinger (1952/1984) – DZ) die anfänglichen kreisenden Bewegungen, die Spirale, die er ‚Urknäuel‘ nennt, als Darstellung eines ‚rotierenden Raumgefühls‘ und erwähnt in diesem Zusammenhang pränatale Situationen wie das Schweben in der Fruchtblase. In den durch senkrechte und waagerechte Kritzelbewegungen entstehenden Kreuzgebilden sieht er eine Konfrontation mit der Schwerkraft, das ‚Auskosten‘ des Sich-Aufrichtens und Stehens. Die Zickzacklinie ist ihm Sinnbild für Fortbewegung, für rhythmisches Gehen, und Kastenformen deutet er als Zeichen festen Bodengefühls ... .“ (Sjölin 1996, S.96f.)
Besonders beeindruckt haben mich zwei Kandinsky-Zitate, mit denen ich unter diese drei Posts zu Sjölins „Schrift als Geste“ einen Punkt setzen will:
„Der Punkt ist ‚mit der höchsten Knappheit verbunden, d.h. mit der größten Zurückhaltung, die aber spricht. So ist der geometrische Punkt ... die höchste und höchst einzelne Verbindung von Schweigen und Sprechen. Deshalb hat der geometrische Punkt seine materielle Form in erster Linie in der Schrift gefunden – er gehört zur Sprache und bedeutet Schweigen. In der fließenden Rede ist der Punkt das Symbol der Unterbrechung ... und zur selben Zeit ist er eine Brücke von einem Sein zum anderen ... ‘ ... .“ (Sjölin 1996, S.80) / „‚Der Punkt ist das Resultat des ersten Zusammenstoßes des Werkzeuges mit der materiellen Fläche, mit der Grundfläche ... Durch diesen ersten Zusammenstoß wird die Grundfläche befruchtet‘ ... .“ (Sjölin 1996, S.80)
Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen