„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 20. Mai 2013

Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1973 (1962)


1. Wildes Denken und kultiviertes Denken
2. Gegensatzpaare als Bedeutungsträger
3. Infra-Struktur und Lebenswelt
4. Primäre und sekundäre Qualitäten
5. Geschichte zwischen Chronologie und Anachronismus

In mancherlei Hinsicht ähnelt die Lévi-Straussische „Struktur“ bzw. das „System“ dem, was die Phänomenologen die Lebenswelt nennen: „Im Unterschied zu den anderen Klassifikationssystemen, die vornehmlich konzipiert sind (wie die Mythen) oder vollzogen (wie die Riten), ist der Totemismus fast immer gelebt, d.h. er haftet an konkreten Gruppen oder konkreten Individuen, weil er ein erbliches Klassifikationssystem ist.()“ (Lévi-Strauss 1973, S.268)

Es ist eine Eigenart von Lévi-Strauss, daß er oft Begriffe setzt, ohne sie vorher einzuführen oder wenigstens im nachhinein zu erläutern. Auch die in diesem Zitat kursiv hervorgehoben Verben ‚konzipieren‘, ‚vollziehen‘ und ‚erleben‘ werden von ihm nicht erläutert. Sie tauchen also plötzlich im Text auf, und es bleibt dem Leser überlassen, sich seinen Teil dabei zu denken. Ich halte es ebenso und beschränke mich hier auf die Pointe, daß das wilde Denken ein gelebtes, weil erbliches Klassifikationssystem bildet.

Beide Prädikate, ‚gelebt‘ und ‚erblich‘, verweisen auf Aspekte der Lebenswelt. Wir werden in eine Lebenswelt hineingeboren und leben in ihren Horizonten, ohne daß wir uns ihrer bewußt werden. Dabei entspricht der Husserlsche Horizontbegriff der Lévi-Straussischen Struktur. Noch deutlicher wird diese Parallele am Begriff der Infra-Struktur (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.92, 114f.), die ja schon im Wort auf ein Unterhalb (‚infra‘) verweist, also z.B. auf ein Unter-Bewußtsein. Ich selbst ordne die Lebenswelt zwar eher dem Unbewußten als dem Unterbewußten zu, im Sinne eines prinzipiell Unbewußten, während alles Unterbewußte potentiell bewußt ist, also z.B. mit psychoanalytischen Techniken bewußt gemacht werden kann. (Vgl. meinen Post vom 20.04.2012) Aber diese Differenzierung zwischen Unbewußtem und Unterbewußtem ist sehr subtil, und es fällt schwer, sie konsequent durchzuhalten.

Der Begriff der Lebenswelt stammt aus der Phänomenologie (Husserl) und ist auf einen Horizontbegriff bezogen: der Horizont der Lebenswelt bildet prinzipiell nur Binnenhorizonte. Es gibt keinen Außenhorizont zur Lebenswelt. Das ist der Grund, warum die Lebenswelt ein prinzipiell Unbewußtes bildet. Der Lévi-Straussische Begriff der Struktur beinhaltet aber einen Konstruktivismus, was bedeutet, daß die Infra-Struktur rekonstruierbar ist. Sie fungiert zwar auf einer vorbewußten Ebene, kann aber bewußt gemacht werden.

Der immanente Konstruktivismus im Lévi-Straussischen Strukturbegriff wird z.B. an der kybernetischen Funktion deutlich, die die Struktur bei ihm hat: „Nimmt man einen Ausgangspunkt an (dessen Begriff rein theoretisch ist), an welchem die Gesamtheit der Systeme genau ausgewogen war, so wird diese Gesamtheit auf jede Veränderung, die zunächst einen ihrer Teile angreift, wie eine Maschine mit ‚feedback‘ reagieren ... Die legendären Traditionen der Osage, ob sie nun der historischen Wirklichkeit zugehören oder nicht, zeigen, daß das Denken der Eingeborenen von sich aus Interpretationen dieses Typs hat vornehmen können, Interpretationen, die sich auf die Annahme einer strukturalen Regulierung der historischen Entwicklung gründen.“ (Lévi-Strauss 1973, S.85f.)

Der ausgewogene Ausgangszustand eines Gesellschaftssystems, von dem Lévi-Strauss hier spricht, besteht in der durch das Klassifikationssystem festgelegten Anzahl von Positionen und Funktionen, für die eine darauf abgestimmte Anzahl von Eponymen (Namensgebern) zur Verfügung steht. Jede Position bzw. Funktion ist mit einem Eponym verknüpft. Diese Eponyme sind der „ursprünglichen Reihe“ (Lévi-Strauss 1973, S.269), also der Natur, entnommen und können nicht beliebig vermehrt werden.

Jede neue Generation, jedes neugeborene Kind, muß in dieses Klassifikationssystem eingeordnet werden. Solange die bisherigen Postions- bzw. Funktionsinhaber leben, sind die neu hinzu gekommenen Kinder nur Anwärter auf diese Positionen, bis ihnen der Tod Platz verschafft und sie eine freigewordene Position und mit dieser Position das dazugehörige Eponym übernehmen können. Lévi-Strauss bezeichnet die Begrenztheit und die Unveränderlichkeit als eine „ständige() Eigenschaft der klassifikatorischen Systeme“: „... sie sind begrenzt und unverformbar. Durch ihre Regeln und Bräuche legt jede Gesellschaft nur ein strenges und diskontinuierliches Netz über den kontinuierlichen Fluß der Generationen, dem sie auf diese Weise eine Struktur aufzwingt.“ (Lévi-Strauss 1973, S.232)

Dieses „Netz“ bzw. diese Infrastruktur gewährleistet also wie die Lebenswelt die Gewißheit des „Immer-so-weiter“, nur daß wir es hier eben mit einer Art „Maschine“ zu tun haben, die repariert und gewartet werden kann. Das ist immer dann nötig, wenn aufgrund geschichtlicher Ereignisse wie Geburtenüberschüsse, Hungersnöte, Epidemien oder Kriege das demographische Gleichgewicht gestört ist. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.181) Dann nehmen die weisen Männer Modifikationen und Ergänzungen am Klassifikationssystem vor, die dessen ursprüngliche Logik möglichst intakt erhalten oder sie zumindestens nicht allzusehr deformieren. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.183f.)

So wie wir heutzutage beim Begriff der Infrastruktur vor allem an Straßen und den Autoverkehr denken, vergleicht auch Lévi-Strauss das Spurenlesen mit dem Autofahren: „Der amerikanische Indianer, der eine Fährte an kaum wahrnehmbaren Indizien abliest, und der Australier, der ohne Zögern die von irgendeinem Mitglied seiner Gruppe hinterlassenen Fußspuren identifiziert ..., verfahren nicht anders als wir, wenn wir ein Auto lenken und in einem einzigen Augenblick aufgrund einer leichten Richtungsänderung der Räder, ein Schwanken im Takt des Motors oder gar aufgrund eines abschätzenden Blickes den Moment für gekommen halten, wo wir einen Wagen überholen oder ihm ausweichen können.“ (Lévi-Strauss 1973, S.256)

Dieser ungewöhnliche, scheinbar unmotivierte Vergleich zwischen dem Spurenlesen und dem Autofahren ist typisch für Lévi-Straussens Darstellungsweise. Immer wieder stellt er rätselhafte Behauptungen auf, die er dann entweder gar nicht oder nur ungenügend erläutert. Auf das Spurenlesen geht Lévi-Strauss auf den folgenden Seiten gar nicht mehr weiter ein, während er das Beispiel vom Autofahren in allen Details durchdiskutiert. Was das Spurenlesen betrifft, muß man sich damit begnügen, daß Spurenlesen und Autofahren gleichermaßen auf einst bewußten, dann ins Unterbewußtsein abgesunkenen Fähigkeiten beruhen. Vielleicht kann man die Spuren im Gelände auch noch mit Wegen assoziieren, die die Tiere oder Menschen gegangen sind, und darin eine weitere Parallele zu den Straßen und Autobahnen unserer technischen Zivilisation sehen.

Letztlich erläutert aber wohl weniger das Spurenlesen den Autoverkehr, sondern der Autoverkehr soll den Technikcharakter des Spurenlesens hervorheben. Das natürliche System, in dem die Menschen ihre Spuren hinterlassen, bildet auf die gleiche Weise eine Infrastruktur wie die technische Umwelt des Autoverkehrs. Nicht das Autofahren ist so ‚natürlich‘ wie das Spurenlesen, sondern das Spurenlesen ist so ‚künstlich‘ wie der Autoverkehr. Und das individuelle Autofahren bildet im Ganzen des Verkehrssystems ein beständiges, homöostatisch ausgeglichenes, kybernetisch reguliertes System aus Aktionen und Reaktionen.

Ein anderes Beispiel ist das Kartenspiel, dessen Regeln schon festgelegt sind, wenn die Spieler zusammenkommen und die Karten verteilen. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.114f.) Sie haben die Regeln, an die sie sich beim Spielen orientieren, gewissermaßen ‚geerbt‘, also nicht selbst aufgestellt. Auch wenn es nur eine begrenzte Anzahl von Karten gibt, die jedem Spieler zur Verfügung stehen, hat dieser nun doch die Möglichkeit, im Rahmen der Regeln seine ganz individuellen Strategien zu verfolgen.

Auch hier haben wir wieder den konstruktiven Charakter. Die vorgegebene Infrastruktur wurde ‚gemacht‘, wenn auch nicht von den aktuellen Spielern, sondern von irgendwelchen ‚Vorfahren‘ oder ‚Ahnen‘. Ähnlich wie die Lebenswelt bildet sie ein „‚apriorisches‘ Gitter“ (Lévi-Strauss 1973, S.174), das man über einen ‚Text‘ bzw. über die ‚Welt‘ legt und so ihr komplexes Rauschen in eine sinnvolle Nachricht umwandelt.

Und es ist genau dieser Charakter des Gemachtwordenseins, der Konstruktivität, der die Lévi-Straussische Infrastruktur von der Husserlschen Lebenswelt unterscheidet.

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