„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 6. Mai 2013

Getreu die wirkliche Erfahrung zur Aussprache bringen!

Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 3/1996 (1935/36)

1. „Jedermann, der diese Methode verstehen und zu üben vermag“
2. Gewißheit jenseits allen Zweifels
3. „Daten und Datenkomplexe“
4. Geschichte als Sedimentation
5. Zweite Naivität

Husserl kritisiert an „Sensualisten“ wie etwa John Locke, daß sie Sinnes- bzw. Empfindungsdaten mit realen, „an den Körpern selbst“ wahrgenommenen Eigenschaften von Körpern gleichsetzen. (Vgl. Husserl 3/1996, S.29f.) Auf diese Weise „unterschieben“ sie „der Wahrnehmung, die uns doch Dinge (die Alltagsdinge) vor Augen stellt, bloße Sinnesdaten“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.104) Mancher wird vielleicht an dieser Stelle gleichgültig mit der Schulter zucken und sich fragen, wie man denn überhaupt zwischen Sinnesdaten ‚im Kopf‘ und realen Eigenschaften von Körpern außerhalb des Kopfes unterscheiden soll? Andere werden vielleicht an dieser Stelle genau aus denselben Gründen neugierig und wissen wollen, was Husserl genau damit gemeint haben könnte.

Mit Husserl müßte man die Frage nach dem Unterschied zwischen der Welt im Kopf und der Welt da draußen zurückweisen, weil sie falsch gestellt ist. Denn es geht nicht um ein Wissensproblem, also wie man von einer Außenwelt wissen kann, sondern um ein ethisches Problem: was wäre denn die Konsequenz, wenn es keine Außenwelt gäbe? – Nach Husserl besteht die Konsequenz einer „Lehre“, derzufolge die Phänomene „nur in den Subjekten“ sind, „als kausale Folgen der in der wahren Natur stattfindenden Vorgänge, die ihrerseits nur in mathematischen Eigenschaften existieren“, darin, daß „die gesamten Wahrheiten des vor- und außerwissenschaftlichen Lebens, welche sein tatsächliches Sein betreffen, entwertet“ werden. (Vgl. Husserl 3/1996, S.58)

Das eigentliche Rangverhältnis zwischen Lebenswelt und mathematisch berechenbarer ‚Natur‘ wird damit auf den Kopf gestellt. Denn so wie die S/P-Struktur unserer unbezweifelbaren Selbstgewißheit allen mathematischen Formeln erst ihren Sinn verleiht, so bildet die vorwissenschaftliche Lebenswelt die transzendentale Voraussetzung für die Möglichkeit der Naturwissenschaft:
„Der Transzendentalismus ... sagt: der Seinssinn der vorgegebenen Lebenswelt ist subjektives Gebilde, ist Leistung des erfahrenden, des vorwissenschaftlichen Lebens. In ihm baut sich der Sinn und die Seinsgeltung der Welt auf, und jeweils der Welt, welche dem jeweilig Erfahrenden wirklich gilt. Was die ‚objektiv wahre‘ Welt anlangt, die der Wissenschaft, so ist sie Gebilde höherer Stufe, aufgrund des vorwissenschaftlichen Erfahrens und Denkens bzw. seiner Geltungsleistungen. Nur ein radikales Zurückfragen auf die Subjektivität, und zwar auf die letztlich alle Weltgeltung mit ihrem Inhalt und in allen vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Weisen zustandebringende Subjektivität, sowie auf das Was und Wie der Vernunftleistungen kann die objektive Wahrheit verständlich machen und den letzten Seinssinn der Welt erreichen.“ (Husserl 3/1996, S.75f.)
Wenn jetzt wiederum einige denken, diese Textstelle sei doch ein eindeutiges Plädoyer für den radikalen Konstruktivismus, da Husserl ja alles auf die lebensweltliche Subjektivität zurückführt, und nun vollends nicht verstehen können, warum Husserl auf den Unterschied zwischen Sinnesdaten und realen Eigenschaften von Körpern besteht, so übersehen sie zum einen die Naivität dieser lebensweltlichen Subjektivität, und zum anderen verstehen sie nicht den Unterschied zwischen einem leistenden und einem konstruierenden Bewußtsein.

Der „Seinssinn“, sagt Husserl im obigen Zitat, sei eine „Leistung des erfahrenden, des vorwissenschaftlichen Lebens“. Immer wieder bezeichnet Husserl das „Bewußtsein“ als „leistendes Leben“, als „recht oder schlecht, Seinssinn leistendes“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.99) Bewußtsein, das etwas ‚leistet‘, bedeutet in der Husserlschen Diktion aber nicht, daß es etwas konstruiert. Es vollzieht vielmehr einen Seinssinn; und mit Bezug auf die Lebenswelt: es fungiert.

Wir haben es also nicht mit einem bewußten konstruierenden Ingenieur zu tun, sondern mit einer Naivität. Und Husserl wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, daß es zur Bewahrung des Sinns von Wissenschaft, und ineins damit zur Bewahrung des „europäischen Menschentums“ darum geht, auf diese Naivität zurückzukommen. (Vgl. Husserl 3/1996, S.63) Nur ein „radikales Zurückfragen auf die Subjektivität“, eben auf die vorwissenschaftliche Lebenswelt, kann über die bloß „objektive Wahrheit“ der Wissenschaft hinaus zum „letzten Seinssinn der Welt“ vorstoßen. (Vgl. Husserl 3/1996, S.76) Diese Naivität, auf die Husserl zurückfragen möchte, konstruiert nicht: sie leistet bzw. fungiert.

Wenn wir aber nun der sinnlichen Wahrnehmung, die den Körpern reale Eigenschaften zuordnet, bloße „Sinnesdaten“ „unterschieben“ (vgl. Husserl 3/1996, S.104), verwandeln wir die lebensweltlich entscheidende Differenz zwischen Innen und Außen, zwischen bloßer „Fiktion“ und realer Welt in lauter berechenbare „Daten und Datenkomplexe“ (vgl. Husserl 3/1996, S.104; vgl. auch S.96), ja, die Person selbst wird zu einem „unaufhörlich wechselnde(n) Haufen von Daten“ (vgl. Husserl 3/1996, S.96). Im Grunde hat Husserl hier schon die virtuellen Realitäten unserer Computerwelten vorweggenommen, auch wenn er statt von ‚Algorithmen‘ von ‚geregelten‘ Assoziationen von Datenkomplexen spricht. (Vgl. Husserl 3/1996, S.96)

Es geht Husserl also genau um die Unterscheidung, die ich auch schon in meinen beiden Posts vom 25.10.2011 mit meiner Differenzierung zwischen einer Informationstheorie und einer Gegenstandstheorie der Wahrnehmung beschrieben habe. Es geht eben nicht darum, wie man in einem streng empirischen Sinne zwischen Informationen und Gegenständen, zwischen Sinnesdaten und realen Eigenschaften unterscheiden kann. Es geht vielmehr um eine Neubewertung des Verhältnisses von Lebenswelt und Wissenschaft, von alltagssprachlicher S/P-Struktur und mathematischem Formelsinn:
„Wir sprechen hier und überall, getreu die wirkliche Erfahrung zur Aussprache bringend, von Qualitäten, von Eigenschaften der wirklich in diesen Eigenschaften wahrgenommenen Körper. Und wenn wir sie als Füllen von Gestalten bezeichnen, so nehmen wir auch diese Gestalten als Qualitäten der Körper selbst, und auch als sinnliche, nur daß sie als αίσϑητά κοινά (körperliche Eigenschaften – DZ) nicht die Bezogenheit auf ihnen allein zugehörige Sinnesorgane haben wie die αίσϑητά ίδια (Sinnesempfindungen – DZ).“ (Husserl 3/1996, S.30)
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