„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 6. Juni 2013

Felix Hasler, Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 3/2013 (2012)

1. Methoden und Experimente
2. neurologische ‚Korrelate‘
3. „Säftelehre der Griechen“
4. „Pathologisierung psychischer Phänomene“
5. Neurowissenschaften und Politik
6. Kritische Neurowissenschaften

Zur Problematik einer Korrelation von Bewußtseinsqualitäten mit neurophysiologischen Befunden habe ich mich schon an anderer Stelle geäußert (u.a. in meinem Posts vom 19.03.2011 und vom 27.07.2012). Mein Hauptargument ist, daß das Bewußtsein nur eine Korrelation zuläßt: die Korrelation von Mensch und Welt bzw. von Bewußtsein und Gegenstand. Das primäre Korrelat des Gehirns wiederum bildet der jeweilige Körper, in dem es sich befindet. Plessner beschreibt das Verhältnis von Körper und Gehirn deshalb als Körperleib.

Im Zusammenhang dieses Körperleibs ist das Gehirn für ein Bewußtsein funktional. Wenn man von neurophysiologischen Korrelaten spricht, geht man auf empirisch nicht belegbare Weise über diese Feststellung hinaus. Man behauptet, lokalisierbare und spezifizierbare neuronale Gegebenheiten für einzelne, wiederum spezifizierbare Bewußtseinsqualitäten dingfest machen zu können. Daß das mit dem derzeitigen technologischen Stand nicht geht, habe ich schon im letzten Post diskutiert. Ich bezweifele allerdings auch grundsätzlich, daß das überhaupt geht.

Auch Felix Hasler schätzt die Aussagekraft der Neurowissenschaften zum menschlichen Bewußtsein und überhaupt zum menschlichen Verhalten sehr nüchtern ein: „Man hat noch nicht einmal ansatzweise verstanden, welche spezifische neuronale Konfiguration, welche Ausgestaltung kortikaler und subkortikaler Netzwerke zu welchem individuellen Erleben führt. Geschweige denn, zu welchem Verhalten.“ (Hasler 2012, S.156) – Bei der Präsentation neurowissenschaftlicher Ergebnisse kommt es, so Hasler, zu einer ständigen Verwechslung von ‚Daß‘ und ‚Wie‘. Daß es aufgrund aktueller Erlebnisse, die sich auch experimentell kontrollieren lassen, zu sichtbaren Veränderungen in der Neurophysiologie des Gehirns kommt, ist unbestreitbar. Wie aber diese Befunde mit den Erlebnissen zusammenhängen und wie man sie „zielgerichtet“ beeinflussen kann, ist völlig unklar. (Vgl. Hasler 2012, S.157) Dennoch behaupten viele Neurowissenschaftler mit ihren bunten Bilderchen, die ja nur – im übrigen recht fragwürdige – Befunde visualisieren, Ratschläge für die Behandlung von Kindern und Straftätern geben zu können.

Weil diese Befunde so unspezifisch und nicht reproduzierbar sind – von demselben Individuum, das zu unterschiedlichen Zeiten unter denselben Bedingungen einer fMRT unterzogen wird, werden unterschiedliche MRT-Bilder produziert –, hat man sich z.B. bei der Entwicklung von Psychopharmaka damit beholfen, deren Wirksamkeit nicht mehr auf die Synapsen zurückzuführen, sondern auf die generelle Neuroplastizität, was nichts anderes heißt als daß sich das Gehirn im Kontakt mit der Umwelt ständig verändert, gleichgültig was passiert: „Die Neuroplastizität als biologisches Korrelat pharmakologischer Intervention ins Spiel zu bringen ist ... ein todsicheres, da kaum zu widerlegendes Argument. Schließlich führt jegliche Form der Einflussnahme auf das Gehirn, sei sie pharmakologischer oder nicht-pharmakologischer Art, zu neuroplastischen Veränderungen. Entgegen früherer Annahmen ist nämlich auch das vollständig entwickelte erwachsene Gehirn noch höchst reaktiv auf Umwelteinflüsse.“ (Hasler 2012, S.132)

Meiner Ansicht nach deutet die generelle Plastizität des Gehirns weniger darauf hin, daß es als Korrelat für das Bewußtsein in Betracht kommt, als vielmehr darauf, daß es für dieses Bewußtsein extrem funktional sein muß. Denn wenn wir uns überlegen, welche Eigenschaften ein Organ haben muß, das das Weltverhältnis des Menschen auf materieller Ebene ermöglicht, so ist es genau diese umfassende Formbarkeit, wie sie die Neuroplastizität beinhaltet. Felix Hasler bringt einige wirklich erstaunliche Beispiele. Aufgrund von Gehirnerkrankungen kommt es gelegentlich vor, daß man Kindern und Erwachsenen eine Gehirnhälfte operativ entfernen muß. Die Betroffenen leben weiter ein normales Leben, und es gehen noch nicht einmal Erinnerungen verloren.

Hasler beschreibt den Fall eines siebenjährigen Mädchens, das nach der Entnahme einer Gehirnhälfte im Alter von drei Jahren sich nicht nur völlig normal weiterentwickelte, sondern auch „fließend zwei Sprachen“ lernte. (Vgl. Hasler 2012, S.57) In diesem Zusammenhang verweist Hasler übrigens auf eine These von Karl Pribram, „dass Erinnerungen als kohärente Muster in elektromagnetischen Feldern neuronaler Netzwerke gespeichert sind. Das Gehirn funktioniert gemäß Pribram wie ein Hologramm ...“. (Vgl. ebenda, Anm. 67) – Das erinnert an die morphogenetischen Felder von Rupert Sheldrake. (Vgl.u.a. meinen Post vom 01.02.2013)

Ein anderes Beispiel zur Neuroplastizität, das Hasler beschreibt, wird ebenfalls bei Sheldrake besprochen: der Wasserkopf bzw. „Hydrocephalus“. (Vgl. meinen Post vom 06.02.2013) Patienten, deren Gehirn zu bis zu 95 % mit Flüssigkeit ausgefüllt ist und denen also nur 5 Prozent der Gehirnmasse zur Verfügung steht, zeigen keine Bewußtseinsbeeinträchtigungen: „Der eindrücklichste Fall ist ein junger Student, der ‚einen IQ von 126 hat, erstklassige Noten in Mathematik schreibt und sozial völlig normal ist. Jedoch hat dieser Junge so gut wie kein Gehirn.‘()“ (Hasler 2012, S.56)

Angesichts solcher Fälle macht es einfach keinen Sinn, spezifische Gehirnfunktionen mit spezifischen Bewußtseinsqualitäten zu korrelieren. Es ist der gesamte Körperleib, der Bewußtsein hervorbringt, und nicht einzelne neurophysiologische Korrelate.

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