„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 7. Juni 2013

Felix Hasler, Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 3/2013 (2012)

1. Methoden und Experimente
2. neurologische ‚Korrelate‘
3. „Säftelehre der Griechen“
4. „Pathologisierung psychischer Phänomene“
5. Neurowissenschaften und Politik
6. Kritische Neurowissenschaften

Das Gehirn reagiert Hasler zufolge ständig auf Veränderungen im Organismus und in der Umwelt, wobei ‚Organismus‘ und ‚Umwelt‘ auf dasselbe, nämlich auf komplexe Stoffwechselprozesse hinauslaufen. Bei der von mir im letzten Post thematisierten Neuroplastizität geht es letztlich um nichts anderes: um ständige homöodynamische Anpassungsprozesse zwecks Stabilisierung eines für die Lebenserhaltung unverzichtbaren, fragilen Gleichgewichts. Genau das ist der eigentliche Grund für die von Hasler angesprochene „notorische“ Aktivität des Gehirns. (Vgl. Hasler 2012, S.50) Noch das „vollständig entwickelte erwachsene Gehirn“ ist „höchst reaktiv auf Umwelteinflüsse“. (Vgl. Hasler 2012, S.132)

Wenn die Pharmaindustrie deshalb dem sogenannten „chemischen Ungleichgewicht“ (Hasler 2012, S.130) insbesondere von „Teenager-Gehirnen“ (Hasler 2012, S.156) den Kampf angesagt hat und inzwischen auch Erwachsene zur „Optimierung“ ihrer Leistungsfähigkeit zu Ritalin, Prozac und anderen pharmazeutischen Produkten greifen, haben wir es dabei allererst mit einer logischen Absurdität mit erheblichen biochemischen Implikationen zu tun. Die logische Absurdität besteht darin, ein ‚Gehirn‘, dessen vordringlichste Aufgabe darin besteht, seinen Organismus im Gleichgewicht zu halten, zu ‚optimieren‘. Wie bitte optimiert man einen Gleichgewichtszustand?

Ungeachtet der pädagogisch wie anthropologisch höchst komplexen Frage nach der entwicklungspsychologischen Funktion der Pubertät, die sich nicht einfach auf ein chemisches Ungleichgewicht herunterbrechen läßt, weil dabei andere, das ganze Leben eines Menschen umfassende Gleichgewichte nicht berücksichtigt werden, muß doch jeder Versuch, ein bestehendes Gleichgewicht zu ‚optimieren‘, erst dazu führen – und darin besteht die biochemische Implikation dieser logischen Absurdität –, daß ein Ungleichgewicht überhaupt erst entsteht! Das Gehirn reagiert auf alle Umwelteinflüsse und paßt sich ihnen an. Also reagiert es auch auf Psychopharmaka und paßt sich ihnen an. Wenn man diese dann absetzt, entsteht genau das Ungleichgewicht, das die Psychopharmaka angeblich korrigieren sollten. Die Pharmaindustrie spricht hier verharmlosend vom sogenannten „Absetz-Syndrom“: „Der Begriff ‚Absetz-Syndrom‘ wurde mit Bedacht gewählt, um den belasteten Begriff ‚Entzugserscheinungen‘ zu vermeiden. ... Zugleich kommt es zu einer Schuldverschiebung – vom Entzugserscheinungen verursachenden Medikament hin zum Patienten, der aufhört, diese(s) zu nehmen.“ (Hasler 2012, S.124)

Die komplexe Neuroplastizität des Gehirns ist noch nicht mal ansatzweise verstanden. Angeblich sollen die Psychopharmaka Fehlregulationen im Neurotransmitter-Haushalt ausgleichen. Der Vorsitzende der Arbeitskommission zur Erstellung der vierten Version des Diagnosemanuals stellt die „Neurotransmitter-Hypothese“ allerdings auf eine Stufe mit der „Säftelehre der Griechen“. (Vgl. Hasler 2012, S.130)

In diese subtilen Gleichgewichtsmechanismen mittels Medikamenten eingreifen zu wollen, ist deshalb im höchsten Maße verantwortungslos: „Anstatt ein (hypothetisches) psychopathologisch bedingtes chemisches ‚Ungleichgewicht‘ auszugleichen, verursachen SSRI-Antidepressiva dieses erst. Vor der Behandlung mit SSRIs ist völlig unklar, ob das Serotoninsystem tatsächlich gestört ist. Während und nach der Behandlung hingegen ist es sicher, dass das Serotoninsystem weniger reaktiv und somit unnatürlich verändert ist.“ (Hasler 2012, S.134)

Es sind allererst die Neurowissenschaftler, die den Pharmakonzernen die ‚wissenschaftlichen‘ Argumente für ihre lukrativen Geschäfte mit den Psychopharmaka liefern und sich für ihre Studien auch gut bezahlen lassen. Dafür brauchen sie oft nicht mehr zu tun, als ihren Namen zur Verfügung zu stellen, während die wissenschaftlichen Artikel von konzerneigenen Ghostwritern geschrieben werden. (Vgl. Hasler 2012, S.109ff.)

Hasler zitiert aus einem Editorial des „PLoS-Medicine“ (2009), das ich hier als Schlußwort zu diesem Post verwenden möchte: „Die um sich greifende Ghostwriting-Praktik könne zu ‚bleibenden Schäden und sogar Todesfällen führen, weil verschreibende Ärzte und Patienten über Risiken falsch informiert werden.‘() Gewissermaßen als Warnschuss schlagen die PLoS Herausgeber vor, dass alle Artikel, bei denen Ghostwriting zweifelsfrei nachgewiesen wurde, offiziell zurückgezogen werden sollten. Das könnte tatsächlich Wirkung zeigen, schließlich ist der Rückzug einer Publikation für einen Wissenschaftler eine echte Image-Katastrophe. Die Herausgeber medizinischer Fachzeitschriften ihrerseits sollten sich ‚doch entscheiden, ob sie nicht gleich überlaufen und den Marketingabteilungen von Pharmafirmen beitreten wollen.‘“ (Hasler 2012, S.112f.)

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen