„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 26. Juli 2013

Edith Stein, Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung zur philosophischen Anthropologie, in: Edith Stein Gesamtausgabe, hrsg.v. Internationales Edith-Stein-Institut Würzburg, Bd.14: Sachschriften zur Anthropologie und Pädagogik 2, Freiburg/Basel/Wien 2/2010 (1932/33)

1. Christliche Anthropologie
(vgl. hierzu auch meinen Post vom 13.02.2016)
2. Interdisziplinarität
3. Embryogenese als Beispiel einer teleologischen Entwicklungsdynamik
4. Geist und Kraft
5. Expressivität und Exzentrizität

Nachdem ich in meinem Post vom 11.07.2013 den Verdacht geäußert hatte, daß Edith Steins Anthropologie auf dem katholischen Glaubensbekenntnis beruht, was immer auch mit Einschränkungen der Denkfreiheit einhergeht, habe ich mich inzwischen noch einmal eingehend mit ihrer Vorlesung zur philosophischen Anthropologie „Der Aufbau der menschlichen Person“ (1932/33) befaßt. Ich hatte Edith Stein bislang noch nicht gelesen und wollte mich noch einmal vergewissern, daß ich mit meinem Verdacht nicht falsch liege.

Um es gleich vorwegzunehmen: Edith Stein bewegt sich mit ihrer Anthropologie tatsächlich auf der „dogmatische(n) Grundlage“ (Stein 2/2010, S.9) des katholischen Glaubensbekenntnisses. Zu den „Glaubenswahrheiten“ (Stein 2/2010, S.9, 27, 160 u.ö.), deren jede ‚Anthropologie‘ als „Beschreibung des menschlichen Seins, wie es wirklich ist“, inklusive seiner „allgemein faßbare(n) Seinsstruktur“ (vgl. Stein 2/2012, S.23f.), bedarf, zählt Stein u.a. die „Trinität“ (Stein 2/2010, S.9), die Kreatürlichkeit des Menschen (als Gattung) und der individuellen Menschenseele (von Gott geschaffen (vgl. Stein 2/2010, S.160)) und die Gottesebenbildlichkeit des Menschen auf (vgl. Stein 2/2010, S.160).

Insbesondere die Gottesebenbildlichkeit des Menschen dient Edith Stein als wichtiges Erkenntnismittel für eine „christliche Anthropologie“ (Stein 2/2010, S.9), da sich aus der trinitarischen Struktur der Gottheit viele spezifische Hinweise auf den menschlichen ‚Geist‘ und die menschliche ‚Seele‘ ableiten lassen, die einer bloß empirisch und geisteswissenschaftlich vorgehenden Anthropologie notwendigerweise verborgen bleiben müssen. Deshalb bilden die katholische Glaubenslehre und mit ihr die Theologie den krönenden Abschluß jeder anthropologischen ‚Teildisziplin‘; denn in bezug auf den Menschen befaßt sich jede nicht christliche Anthropologie nur mit verschiedenen Aspekten des Menschseins, aber nicht mit dem ganzen Menschen. In einer vollständigen, den ganzen Menschen umfassenden Anthropologie „laufen ... alle metaphysischen, philosophischen, theologischen Fragen zusammen, und von hier aus führen die Wege nach allen Seiten.“ (Stein 2/2010, S.26)

Jede Wissenschaft vom Menschen, etwa die Erziehungswissenschaft, muß trotz aller erkenntnismäßigen Beschränkung, letztlich von sich aus auf die katholischen Glaubenswahrheiten hinauslaufen: „... wenn sie richtig verfährt, muß das, was sie herausstellt, mit den Glaubensinhalten übereinstimmen, wenn es auch nicht daraus entnommen ist.“ (Stein 2/2010, S.161) – Stein zufolge kann es nur eine Wahrheit geben. Zwischen Wissenschaft und Glauben kann letztlich nicht unterschieden werden. Deshalb „kann nichts wahr sein, was zur offenbarten Wahrheit in Widerspruch steht.“ (Stein 2/2010, S.27) Die Offenbarung steht als „Tatsache“ (Stein 2/2010, S.160), also als Quelle empirischer Erfahrung, mit den von den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen erhobenen Daten auf einer Stufe.

Gerade die letzten Bemerkungen zur Gleichartigkeit von wissenschaftlichem und offenbartem Wissen zeigt, daß Edith Stein bei aller intellektuellen und phänomenologischen Brillanz, die sie bei der Beschreibung der menschlichen Person an den Tag legt, nicht verstanden hat, was wissenschaftliches Wissen ist. Die Vorstellung, wissenschaftliches Wissen müsse gerade aufgrund der Anwendung seiner ureigenen Methodiken letztlich (oder im Letzten?) mit den Glaubenswahrheiten übereinstimmen, ist aufschlußreich. Wissenschaftliches Vorgehen ist eben nicht auf letzte Wahrheiten oder Gewißheiten ausgerichtet. In der Wissenschaft geht es eben nicht um das Ansammeln und Bewahren eines überzeitlich gültigen Wissensbestandes. Wissenschaftliches Wissen erweist seine Wissenschaftlichkeit im Gegenteil in der Falsifizierbarkeit (Naturwissenschaften) bzw. Plausibilität (Geisteswissenschaften) von Forschungsergebnissen. Naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse, die sich nicht falsifizieren lassen, etwa weil sie sich der Autorität eines „überlegenen Geist(es)“ verdanken (vgl. Stein 2/2010, S.160), können keine wissenschaftliche Gültigkeit beanspruchen. Geisteswissenschaftliche Forschungsergebnisse können hinwiederum keinen höheren Erkenntnisrang als Plausibilität für sich beanspruchen und müssen sich jederzeit im Diskurs in Frage stellen lassen. Wissenschaftliches Wissen ist immer nur auf Zeit gültig, niemals auf Ewigkeit.

Plessner hat sich deshalb in seiner Anthropologie jeder metaphysischen Begründung enthalten. Ihm zufolge muß jede Anthropologie innerhalb der Grenzen einer „Analyse“ des „menschlichen Ausdrucks“ verbleiben. (Vgl. „Lachen und Weinen“ (1941/1950)) Anthropologie bleibt „auf den Bereich des Verhaltens des Menschen zur Welt und seinesgleichen“ verwiesen: „Nie darf deshalb die Analyse Begriffe und Schemata einer Metaphysik zu Hilfe rufen. Diese Zurückhaltung gegenüber metaphysischen Theorien entspringt bei uns keiner Feindschaft oder Abwertung metaphysischen Denkens, sondern allein der Sorge um Befreiung von Vorurteilen, die einer Beantwortung von Problemen des Ausdrucks im Wege standen.“ („Lachen und Weinen“ (1941/1950), S.24) – Ein krasseres Vorurteil als das ‚Vorurteil‘ einer einer höheren Urteilskraft zu verdankenden Offenbarung ist schlicht nicht denkbar.

Im Zentrum der Plessnerschen Anthropologie steht deshalb nicht ein Glaubensbekenntnis, sondern der Begriff der exzentrischen Positionalität: „(D)ie Einführung eines neutralen, von jeder Deutung menschlicher Wesentlichkeit und Eigentlichkeit sich zurückhaltenden Begriffs wie jenes der ‚exzentrischen Position‘ (ist) mit Bedacht gewählt. Unter bewußter Vermeidung belastender, vieldeutiger Worte, welche den anschaulichen Grundbestand verdecken, weist dieser Begriff auf ihn als auf eine Verfassung und Weise des leibhaftigen Daseins hin. Gegen die Verführung hierbei sich nun wieder auf die Außen- oder auf die Innenseite des Zweiseitenmodells des Menschen zu schlagen, die Daseinsverfassung also nach physischen oder psychisch-geistigen Kategorien zu bestimmen und dann hinterher, um den Schaden der Einseitigkeit wieder gutzumachen, einen Kompromiß zwischen Außen und Innen zu schließen – gegen diese Verführung wahrt der Begriff auch Neutralität im Aspekt. Er ist gegen die Blickumkehr, zu der uns schon ansatzweise das lebendige Dasein, in voller Entfaltung aber erst menschliches Dasein zwingt, nicht indifferent, wohl aber neutral.“ („Lachen und Weinen“ (1941/1950), S.49f.)

Die metaphysische Neutralität ist eigentlich auch ein ‚Wesens‘-Merkmal der Phänomenologie. Mit dem Aufruf, „die Sachen selbst ins Auge (zu) fassen“ (Stein 2/2010, S.28), hatte Husserl eigentlich den Weg zu einer neuen wissenschaftlichen Sachlichkeit ebnen wollen. Die Sachen selbst, das sollten vor allem die Erscheinungen sein, die Phänomene, wie wir sie wahrnehmen. Die Erscheinungen an ihrer Oberfläche abzutasten und sich nicht von der Vermutung eines hinter ihnen verborgenen An-sich-Seins, von dem sie eben nur die ‚Erscheinung‘ sind, beirren zu lassen, – das war der eigentliche Zweck der phänomenologischen Methode.

Insofern ist es fast schon komisch, wenn Edith Stein für ihre, einer „christlichen Metaphysik“ (Stein 2/2010, S.9) verpflichtete Anthropologie die Sachlichkeit der phänomenologischen Methode in Anspruch nimmt. Wie sie selbst schreibt, besteht die christliche Offenbarung aus Mysterien: „Katholischer Glaube steht und fällt mit den Mysterien, und zur Idee des Mysteriums gehört die Unzugänglichkeit für natürliche Erkenntnis.“ (Stein 2/2010, S.161) – Was aber für die natürliche Erkenntnis unzugänglich ist, kann auch keiner Phänomenologie zugänglich sein. Denn der Phänomenologie zufolge sind die Erscheinungen das, was sie sind, und nichts anderes.

Wie aber kann ein so intellektueller Mensch wie Edith Stein zu so einem gravierenden Mißverständnis gelangen? Das Problem liegt in der Husserlschen Phänomenologie selbst. Husserl setzt „Gestalt“ mit „Wesen“ gleich. (Vgl. meinen Post vom 21.06.2010) Wenn man ein empirisches oder geistiges Phänomen, eine Kaffeetasse oder Empfindungen wie Freude oder Trauer, beschreiben will, muß man allererst seine Erscheinungsweise beschreiben: in welcher Weise gibt sich uns ein Phänomen als das Phänomen, das wir gerade wahrnehmen? Das Phänomen hat also eine bestimmte Gestalt, und die Wahrnehmung dieser Gestalt beschreibt Husserl als Wesensanschauung.

Nun hat der Begriff der Wesensanschauung in der deutschen Tradition immer auch seine metaphysischen Implikationen. Ob Husserl diese metaphysischen Implikationen bewußt und insgeheim billigend in Kauf genommen hat, weiß ich nicht. Aber Blumenberg zufolge bildet die Husserlsche Wesensanschauung das Einfallstor für Metaphysiken und Ontologien aller Art. Der Begriff der „Wesensanschauung“ ist metaphysisch nicht „neutral“, wie etwa der der exzentischen Positionalität, und auch Blumenberg fordert deshalb eine „schulneutrale Sprache“: „Sie muß alle Ansätze für dogmatische Behauptungen zur Differenz von Schein und Sein ausschalten.“ („Höhlenausgänge“ (1989), S.488; vgl. hierzu auch meinen Post vom 12.07.2012)

Es ist genau diese Wesensanschauung als eine Form geistiger Anschauung, die Edith Stein für ihre christliche Anthropologie in Anspruch nimmt. (Vgl. Stein 2/2010, S.29) Sie ermöglicht es ihr – nicht ohne Bezug auf Heidegger (vgl. Stein 2/2010, S.7ff.) –, die Erscheinungen mit einem „eigentlichen Sein“ auszustatten und so metaphysisch aufzuladen.

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