„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 27. Juli 2013

Edith Stein, Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung zur philosophischen Anthropologie, in: Edith Stein Gesamtausgabe, hrsg.v. Internationales Edith-Stein-Institut Würzburg, Bd.14: Sachschriften zur Anthropologie und Pädagogik 2, Freiburg/Basel/Wien 2/2010 (1932/33)

1. Christliche Anthropologie
2. Interdisziplinarität
3. Embryogenese als Beispiel einer teleologischen Entwicklungsdynamik
4. Geist und Kraft
5. Expressivität und Exzentrizität

Es ist für mich immer wieder interessant, wenn sich Autoren zum interdisziplinären Zusammenhang in den Wissenschaften äußern. Auch Edith Stein trägt zu diesem Thema einige Aspekte bei. Sie nennt vier Vorgehensweisen, von denen sich jeweils zwei antithetisch gegenüberstehen: nomothetisch und idiographisch vorgehende sowie generalisierend und individualisierend vorgehende Wissenschaften. (Vgl. Stein 2/2010, S.20)

Nomothetische Wissenschaften sind vor allem an dem Aufstellen allgemeiner Gesetze interessiert, und idiographische Wissenschaften setzen sich „die Beschreibung individueller Gebilde und Zusammenhänge“ zum Ziel. (Vgl. ebenda) Das Wort ‚idiographisch‘ beinhaltet, daß es hier eher um die ganzheitliche Darstellung von ‚Bildern‘ geht, als um das analytische Zerlegen von Prozessen und Dingen in ihre Bestandteile. Auch die Begriffe ‚generalisieren‘ und ‚individualisieren‘ entsprechen dieser Differenzierung.

Edith Stein weist darauf hin, daß diese „Einteilung und die von anderer Seite bevorzugte in Natur- und Geisteswissenschaften (einander) durchschneiden“. (Vgl. ebenda) Nicht nur die Naturwissenschaften gehen nomothetisch bzw. generalisierend vor. Auch die Geisteswissenschaften beinhalten primär nomothetisch orientierte Disziplinen, wie z.B. die Wirtschaftswissenschaften und die Soziologie.

Hierbei stellt sich natürlich gleich die Frage, ob diese ‚Geistes‘-Wissenschaften mit ihrer nomothetischen Vorgehensweise ihrem Gegenstand gerecht werden. Weder bei der Wirtschaft noch bei der Gesellschaft haben wir es mit Naturphänomenen zu tun, die unwandelbaren Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind. Beide bilden vielmehr historische Gegenstände, wie alle menschlichen Phänomene. Sie machen eine Entwicklung durch. Ihre synchrone, gesetzesförmige Struktur wird von einem diachronen Prozeß durchbrochen und einem wiederum mit nomothetischen Mitteln nur schwer beschreibbaren Wandel unterworfen. (Vgl. meinen Post vom 22.05.2013)

Insgesamt bilden Edith Stein zufolge die Geisteswissenschaften eine Skala von mehr oder weniger individualisierenden Disziplinen. Die Disziplin, die es mit den individuellsten Phänomenen zu tun hat, ist demnach die Geschichtswissenschaft: „Die Geschichtswissenschaft will den Gang der Menschheitsgeschichte, wie er sich einmalig und unwiederholbar vollzogen hat, in konkreten menschlichen Individuen, Völkern etc., erforschen und darstellen. ... Die Geschichte sucht das Individuell-Konkrete zu erfassen, die Biographie eines einzelnen Menschen und seinen Lebensgang ...“ (Stein 2/2010, S.21)

Wenn man beim methodischen Vorgehen der verschiedenen Disziplinen zwischen einer Forschungsmethodik, der Heuristik, und einer Lehrmethodik, der Didaktik, unterscheidet, so bevorzugen die Geisteswissenschaften in ihrer Lehre, wie Edith Stein insbesondere an der Geschichtswissenschaft aufzeigt, kasuistische Methodiken. (Vgl. hierzu auch meine Posts vom 26.07.2012 vom 15.04.2013 und vom 09.07.2013) Mit Hilfe von Beispielen und Vorbildern soll bei den Studierenden eine Sensibilität für historische Ereignisse geweckt und geübt werden. Im Mitvollzug der inneren Einstellung des Lehrenden müssen die Studierenden lernen, wie man historische Ereignisse in ihrer individuellen Differenz zur eigenen Gegenwart versteht:
„Das worauf es ankommt, wenn man jemand zum Erfassen einer Individualität bringen will und keine lebendige Begegnung herbeiführen kann, ist, ihn den Weg zu führen, auf dem man selbst ans Ziel gelangt ist. Man muß die besonders ‚sprechenden Züge‘ erzählen, vor allem, soweit möglich, originale Äußerungen jenes Menschen darbieten, damit der Akt des Verstehens mit vollzogen werden kann. Dieses Mitvollziehen anzuregen, darin besteht die Kunst der Darstellung, in der sich – wie schon oft hervorgehoben wurde – Historiker und Künstler begegnen, wie auch die Kunst der Interpretation, des Deutens von persönlichen Äußerungen, beiden gemeinsam ist. Wer sich durch solche Darstellungen mit Menschen bekannt machen läßt, der macht eine Schule des Verstehens durch. Und dadurch werden geschichtliche Meisterwerke ebenso wie Meisterwerke einer seelenerschließenden Kunst von höchster Bedeutung als Einführung und Übung für das Erfassen individueller Eigenart, das eine unentbehrliche pädagogische Funktion ist.“ (Stein 2/2010, S.22)
Die Differenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, zwischen nomothetischen und idiographischen Vorgehensweisen gibt es auch innerhalb der Anthropologie als „Beschreibung des menschlichen Seins“ (Stein 2/2010, S.23). Wir haben es innerhalb der Anthropologie mit naturwissenschaftlichen und mit geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu tun. Eine naturwissenschaftlich vorgehende Anthropologie ist vor allem an der Biologie des Menschen und an seiner biologischen Evolution als Gattung interessiert. Ähnlich wie die Zoologie behandelt sie den Menschen als Species. (Vgl. Stein 2/2010, S.23) Eine geisteswissenschaftlich vorgehende Anthropologie hingegen behandelt das menschliche Individuum selbst als Species: „Wenn in einem Fall Species, im anderen Individuen dargestellt werden, so bedeutet das keinen Unterschied der Wissenschaftlichkeit, da dieses Gebiet das eine, jenes das andere sachlich verlangt. Denn zum Menschen gehört Individualität, und man hat ihn nicht erfaßt, wenn man ihrer nicht habhaft geworden ist.“ (Stein 2/2010, S.23)

Anders als bei Pflanzen und Tieren, bei denen das Individuum nur Träger der Species ist, insofern „die Species nur in den Individuen realiter ins Dasein treten“ können (vgl. Stein 2/2010, S.56), unterscheidet Edith Stein beim Menschen noch einmal zwischen Gattung (Menschheit) und Species (individueller Mensch): „.So kommen wir dazu, das menschliche Individuum nicht als Exemplar einer allgemeinen Species Mensch aufzufassen, sondern durch seine eigene, einzigartige substanziale Form bestimmt, die als Spezifizierung der Gattungsidee aufzufassen ist.“ (Stein 2/2010, S.96)

Edith Stein zufolge bildet also jeder konkrete Mensch eine Species für sich, womit sie zum Ausdruck bringen will, daß wir als Individuen unsere „innere Form“ in uns selbst haben (vgl. Stein 2/2010, S.34, 38). Anders als bei Pflanzen und Tieren, die nur eine gemeinsame innere Form haben, die der Gattung, bilden die Menschen so viele verschiedene Species, wie es Menschen gibt. Jeder einzelne Mensch unterscheidet sich also seiner inneren Form nach von jedem anderen Menschen innerhalb der Gattung: die „Normalgestalt ist nicht eine für die ganze Species Mensch“. (Vgl. Stein 2/2010, S.34)

Darüber hinaus bildet Edith Stein zufolge aber auch die Gattung selbst eine ‚Species‘. Die Gattung ‚Mensch‘ bzw. die Menschheit hat ihre eigene individuelle Form: „Wenn außer von der Gattung ‚Mensch‘, die sich nur spezifiziert in Individuen realisieren kann, von einer Species ‚Mensch‘ (nicht dieser Mensch) geredet werden soll, so muß sie wiederum individuell gefaßt werden, nämlich als Species der Menschheit, die als ein großes Individuum zu fassen ist. Die menschlichen Individuen sind Glieder dieses großen Individuums und ihre Formen Gliedformen.“ (Stein 2/2010, S.96)

Darin steckt ein Stück katholische Glaubenslehre. Die Menschheit muß deshalb eine eigene, in sich zusammenhängende und über das konkrete Individuum hinausreichende Species bilden, weil es sonst keine „Erbsünde“ geben könnte, die sich von Individuum zu Individuum weitervererbt. Dennoch hat Edith Steins Differenzierung zwischen konkretem Individuum und Gattungsindividuum einen rationalen Sinn. Wir können die Individualisierung der Menschheit auch als einen Effekt der Globalisierung verstehen. Dadurch, daß das Schicksal jedes einzelnen Menschen im Guten wie im Schlechten mit dem gemeinsamen Handeln aller Menschen auf dieser Welt verknüpft ist, bildet die Menschheit insgesamt eine Schicksalsgemeinschaft.

Insofern hat Edith Stein die Menschheit im Zuge ihrer Evolution, in der die Vielfalt der Hominiden im gegenwärtigen Stand einer einzigen Species aufgegangen ist, sowohl biologisch wie auch kulturell korrekt beschrieben. Ihre Differenzierung verschiedener wissenschaftlicher Zugriffe auf den Speciescharakter von Mensch und Menschheit macht auch außerhalb einer spezifisch christlichen Anthropologie Sinn.

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