„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 30. Juli 2013

Edith Stein, Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung zur philosophischen Anthropologie, in: Edith Stein Gesamtausgabe, hrsg.v. Internationales Edith-Stein-Institut Würzburg, Bd.14: Sachschriften zur Anthropologie und Pädagogik 2, Freiburg/Basel/Wien 2/2010 (1932/33)

1. Christliche Anthropologie
2. Interdisziplinarität
3. Embryogenese als Beispiel einer teleologischen Entwicklungsdynamik
4. Geist und Kraft
5. Expressivität und Exzentrizität

An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal dem Begriff der Seele zuwenden, den ich in meinem Blog immer eng mit der Expressivität und der Exzentrizität des Menschen verknüpft habe. (Vgl.u.a. meine Posts vom 14.11.2010 und vom 07.03.2013) Plessner beschreibt die Seele als ein Bedürfnis, sich vor anderen und vor sich selbst verständlich zu machen. Dieses expressive Bedürfnis beruht auf einer inneren Ortlosigkeit. Die Seele ruht nicht in ihrer Mitte, sondern ist immer auf der Suche danach. Sie kann nur auf vermittelte Weise in ihrer Mitte sein. Anders ausgedrückt: der Mensch ist exzentrisch positioniert. (Vgl. meinen Post vom 31.12.2010) Er ist weder Zentrum noch Peripherie, sondern beides zugleich.

Deshalb ist die Seele ein Schwanken auf der Grenze zwischen Innen und Außen. Denn dem Bedürfnis, sich zu zeigen, folgt wie ein Schatten die Angst, mißverstanden zu werden und auf etwas festgelegt zu werden, was sie nicht ist. Diesen Seelenzustand beschreibt Plessner als ein „noli me tangere“.

Edith Steins Kernaussagen zum seelischen ‚Sein‘ haben einen zum Teil gegenteiligen und einen zum Teil ähnlichen Inhalt. Einerseits bildet die Seele die substantielle Mitte bzw. das substantielle Zentrum des Menschen: „Die Menschenseelen haben mit den körperlosen Geistern die personale Struktur und das geistige Sein gemeinsam. Sie sind wie diese Substanzen, denen eine ‚geistige Materie‘ und eine individuell qualifizierende Form eigen ist. Was sie zur ‚Seele‘ macht und von den ‚reinen Geistern‘ unterscheidet, ist, daß sie ‚Seinsmitte‘, ‚personaler Kern‘ einer geistig-körperlichen Natur, einer leib-seelischen Personeinheit sind. Die Verbindung mit dem Leib ist für die Seele wesentlich, trotzdem der Tod als eine Trennung von Leib und Seele aufzufassen ist.“ (Stein 2/2010, S.103)

Edith Stein kennt sogar innerhalb dieses Seinszentrums noch so etwas wie ein tiefstes und innerstes Zentrum, eine „Seele der Seele“: „Die ‚Seele der Seele‘ ist etwas Geistiges; und die Seele als Ganzes ist ein geistiges Wesen, dessen Eigentümlichkeit es ist, ein Inneres zu haben, ein Zentrum, von dem sie ausgehen muß, um Gegenständen zu begegnen, in das sie heimträgt, was sie von draußen gewinnt, und aus dem sie selbst auch nach außen spenden kann. Hier ist das Zentrum des menschlichen Daseins.“ (Stein 2/2010, S.129)

Während Plessner die Seele an der Grenze zwischen Innen und Außen verortet, was ihr gleichzeitig eine Räumlichkeit wie eine gewisse ‚Oberflächlichkeit‘, ein Haften an der Oberfläche verleiht, eben im Sinne ihrer expressiven Natur, ist die Räumlichkeit der Seele bei Edith Stein nicht horizontal, sondern vertikal als in die tiefsten Tiefen weisender Vektor bestimmt: „Wenn der klare Spiegel des Bewußtseins oder des wohlgeordneten äußeren Lebens (sei es des privaten oder des öffentlichen) von merkwürdigen Wallungen getrübt wird, die sich aus den vorausgehenden Wellen des Oberflächenlebens nicht begreifen lassen, dann merkt man, daß man es eben mit einer bloßen Oberfläche zu tun hat, daß eine Tiefe darunter verborge ist und daß in dieser Tiefe dunkle Gewalten am Werk sind.“ (Stein 2/2010, S.5)

So wird bei Edith Stein die Grenze zwischen Innen und Außen zum Spiegel, hinter bzw. unter dem sich dunkle Gewalten verbergen. Diese Anleihe an Psychoanalyse und Tiefenpsychologie (vgl. Stein 2/2010, S.5ff.) wird aber mit einem Umweg über den Existentialismus umgewandelt in einen Verweis darauf, daß wir es hier nicht mit lauter Ungeheuern zu tun haben, sondern mit dem Eigentlichen und Wesentlichen. (Vgl. Stein 2/2010, S.7ff.)

Größer scheinen die Gegensätzlichkeiten in der Bestimmung der Seele also kaum sein zu können als bei Edith Stein und Plessner. Aber es gibt bei Edith Stein immer wieder Anklänge an expressive und exzentrische Aspekte des Plessnerschen Körperleibs, und damit kommen wir zum ‚andererseits‘. Zunächst spricht Edith Stein von einer inneren und äußeren Aufgebrochenheit der Seele (vgl. Stein 2/2010, S.32, 43f., 112f.u.ö.), die sie allerdings nicht nur auf den Menschen bezieht: „Die Entfaltung von innen her ist hier kein in sich geschlossener, wenn auch von materiellen Bedingungen beeinflußter Verlauf, sondern geschieht in beständiger Auseinandersetzung mit dem, was dem Organismus von außen begegnet. Mensch und Tier sind nach innen und außen aufgebrochen.“ (Stein 2/2010, S.43f.)

Das erinnert an die Gebrochenheit des Intentionsstrahls bei Plessner, die dieser allerdings als ausschließliches Merkmal des Menschen beschreibt. Natürlich ist die Konnotation verschieden. ‚Auf-gebrochen‘ meint eine positive Öffnung der Seele zur Welt hin: „Das Geöffnetsein ist im Sinne der Intentionalität zu verstehen, des Erfassens von etwas Gegenständlichem. ... Es war schon davon die Rede, daß der Geist etwas in sich aufnehmen kann (im Gegensatz zum Räumlich-Materiellen, das ‚undurchdringlich‘ ist ...) ... Und so kann auch die Seele etwas in sich aufnehmen, es sich innerlich zu eigen machen.“ (Vgl. Stein 2/2010, S.112)

Wir haben es also nicht mit einer wirklichen Gebrochenheit des Intentionalitätsstrahls zu tun, sondern im Gegenteil mit einer umfassenden, praktisch grenzenlosen Aufnahmefähigkeit des menschlichen Geistes bzw. der Geistseele. Diese Öffnung geht also sogar noch weit über bloße Intentionalität hinaus: „Es muß dies Aufnehmen ins Innere von dem bloßen intentionalen Erfassen wohl unterschieden werden.“ (Stein 2/2010, S.112)

Dennoch beinhaltet diese Öffnung einen Doppelaspekt: die Seele kann sich auch verschließen, im Sinne des Plessnerschen „noli me tangere“. (Vgl. Stein 2/2010, S.113) Die Seele steht nämlich in der Gefahr, sich nach außen hin zu verlieren, zu „verströmen“, und muß sich deshalb selbst schützen: „Ich meine eine Sorge um sich selbst, die – um sich nicht zu verlieren – sich in sich verschließen und das Ausstrahlen aufhalten möchte.“ (Stein 2/2010, S.108f.)

Also auch hier haben wir eine Bewegung, die zwischen sich zeigen und sich verbergen Wollen ‚unruhig‘ hin und her schwankt. Diese „Unruhe“ verwirklicht sich aber Edith Stein zufolge am reinsten nicht etwa in der Menschenseele, sondern in der Tierseele: „‚Seele haben‘ heißt ein inneres Zentrum haben, in dem spürbar alles zusammenschlägt ..., was von außen kommt, aus dem alles hervorbricht, was im Verhalten des Leibes als von innen herkommend erscheint. Es ist die Umschlagstelle, an der die Reize angreifen und von der die Reaktionen ausgehen. ... so ist der eigentliche Ort der Unruhe die Seele, die diesem Treiben ausgeliefert ist und sich ihm nicht entziehen kann.“ (Stein 2/2010, S.47)

Diese Stelle bezieht sich, wie gesagt, nicht auf die Menschenseele, sondern auf die Tierseele. Mit „Umschlagstelle“ ist der Reiz-Reaktions-Mechanismus gemeint, mit dem das Tier ständig unmittelbar auf Außenreize reagiert, ohne jemals innerlich zur Besinnung zu kommen, eine Pause einzulegen und zu reflektieren: „In dem bei aller Gesetzmäßigkeit anscheinend regellosen Wandel und Wechsel in seinen Bewegungen scheint das Tier beständig von außen gezogen und gestoßen, aber nicht mechanisch-körperlich gezogen und gestoßen, sondern auf unsichtbare Weise innerlich getroffen und von innen her darauf reagierend.“ (Stein 2/2010, S.45f.)

Ohne jemals auf Kleist zu sprechen zu kommen, läuft Edith Steins Verhältnisbestimmung von Mensch und Tier auf eine Umkehrung der im „Marionettentheater“ (1810) vorgenommenen Verhältnisbestimmung hinaus: im Duell zwischen Bär und Mensch ist nicht der Mensch der Getriebene und Ruhelose, sondern der Bär, während der Mensch ganz bei sich ist und in sich ruht. Exzentrisch positioniert ist Edith Stein zufolge also nicht der Mensch, sondern das Tier.

Andere Anklänge an Plessners Exzentrizität finden sich bei Edith Stein hinsichtlich der Bestimmung der Erbsünde und auch noch einmal bei der Bestimmung der Seele als Tiefe: „Der Mensch war ursprünglich gut ... durch die Abwendung des ersten Menschen von Gott ist die menschliche Natur aus dem Urzustand gefallen: die Triebe in Empörung gegen den Geist, der Verstand verdunkelt, der Wille geschwächt. ... Der Mensch hat keine Macht über die Gewalten der Tiefe und kann von sich aus den Weg zur Höhe nicht finden.“ (Stein 2/2010, S.10f.)

Die Tiefe der Seele beinhaltet also in gewisser Weise eine eigene Doppelaspektivität, die sich aber von der Plessnerschen Doppelaspektivität unterscheidet: einerseits ist sie innerstes Zentrum, der Ort, in dem der Mensch bei sich „zu Hause“ ist (vgl. Stein 2/2010, S.86), zum anderen ist sie aber eben doch auch der Ort der Triebe, des Getriebenseins nunmehr auch des Menschen und nicht nur des Tieres, was die katholische Glaubenslehre mit dem Begriff der „Erbsünde“ bezeichnet.

Dieser Doppelaspektivität zwischen der ureigensten inneren Mitte als Beheimatung und dem Ausgeliefertsein an die ebenfalls innere Triebhaftigkeit entspricht Edith Steins Aufteilung der Leib-Seele-Einheit in verschiedene Zentren: „Zur Durchformung des Körpers gehört es, daß Zentren in ihm geschaffen werden, von denen aus er sich selbst hält und trägt und bewegt und von denen aus er dem begegnet, was ihm von außen geschieht. In dem Maß, in dem die Durchformung geleistet ist, hat er die Herrschaft über sich. Aber niemals hört er auf, materieller Körper zu sein und den Bedingungen des materiellen Geschehens zu unterstehen.“ (Stein 2/2010, S.39)

Diese Differenzierung zwischen verschiedenen Körperzentren und ihrer Beherrschung durch die Geistseele kommt der Plessnerschen Bestimmung des Körperleibs sehr nahe, in der wir den Körper zugleich haben und dieser Körper sind. Auch bei Edith Stein geht die Beherrschung des Körpers vom „Kopf“ bzw. vom „Menschenhaupt“ aus: „Wenn der Kopf schon durch seine Stellung die beherrschende Rolle im Gesamtaufbau des menschlichen Körpers hat, so gewinnt er durch dieses mannigfache Wechselspiel erst recht an Bedeutung.“ (Stein 2/2010, S.35f.) – Und: „Darüber hinaus aber erscheint die Stellung des Menschenhauptes noch von anderer Bedeutung. Es ist das den ganzen Körper Beherrschende, von dem er überschaut, zusammengefaßt und regiert wird. Die vertikale Richtung ist hier eine doppelte: eine von unten nach oben – das Emporstreben zum Licht, ein von oben nach unten – ein Sichselbstfassen von oben her.“ (Stein 2/2010, S.43)

Aber auch hier haben wir noch einmal eine unterschiedliche Konnotierung dieser Doppelaspektivität. Was bei Plessner auf einen „Hiatus“ und auf einen „Streit“ zwischen „Körper“ und „Leib“ hinausläuft, wird von Edith Stein als ein gemeinsames, von oben her beherrschtes und nach oben hin gerichtetes vertikales „Emporstreben zum Licht“ dargestellt.

Dennoch ist die Leib-Seele-Einheit auch bei Edith Stein eine problematische. Die verschiedenen Bewegungszentren des Körpers können ihre Mitte verlieren: „Der Strauchelnde unterliegt einer Bewegung bzw. Bewegungshemmung, die ihm (phänomenal) von außen aufgenötigt wird .... Es gibt auch eine Abwandlung der normalen Bewegung des menschlichen Körpers: Wenn der Gang ‚affektiert‘, ‚geziert‘ oder in einer anderen Weise ‚unnatürlich‘ ist, so wird mit all dem auch etwas bezeichnet, was nicht der ungestörten Eigengesetzmäßigkeit des Körpers entspricht.“ (Stein 2/2010, S.35)

Aber dieses Strauchelnkönnen und diese zur Schau getragene Affektiertheit der Beherrschungsillusion führt zu keiner Bestimmung der körpereigenen Expressivität wie in Plessners „Lachen und Weinen“ (1941), in der der Körper dem Bewußtsein zu Hilfe kommt.

Letztlich bestimmt Edith Stein die menschliche Exzentrizität vor allem als Gottesverhältnis. Wir sind, was wir sind, aufgrund der Taten Adams und Evas: „... durch die Abwendung des ersten Menschen von Gott ist die menschliche Natur aus dem Urzustand gefallen“. (Vgl. Stein 2/2010, S.10) – Aber für die Heilung seiner Natur ist „ein Weg für ihn bereitet“. (Vgl. Stein 2/2010, S.11). Alles wird gut.

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