„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 22. August 2013

Jan Masschelein/Maarten Simons, Globale Immunität oder Eine kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums, Zürich 2012

1. Das ausgesetzte Kind
2. Pädagogik und Emanzipation
3. Gemeinschaft als Netzwerk
4. Gemeinschaft als Last
5. Was sich manifestiert

Masschelein und Simons verstehen die Gemeinschaft als ‚Last‘ vom lateinischen ‚communis‘ her, in dem das Wort ‚munus‘ steckt, was soviel wie ‚Last‘ bzw. ‚Aufgabe‘ bedeutet. (Vgl. meinen Post vom 18.08.2013) Die beiden Autoren übersetzen dieses Wort auch mit „Lücke“: „Die Übersetzungen Lücke, Last, Schuld oder Gabe zeigen, dass wir etwas schuldig sind ... Die Schuld, die wir in der Welt erfahren, hat etwas damit zu tun, dem Unrecht ausgesetzt zu sein, sie bezieht sich darauf, immer wieder aufs Neue eine Antwort auf die Frage des Zusammenlebens schuldig zu sein, die sich mit und in der Welt stellt.“ (Masschelein/Simons 2012, S.99f.)

Ich bin kein Lateiner und kann deshalb nicht beurteilen, ob ‚Lücke‘ wirklich eine korrekte Übersetzung von ‚munus‘ ist. Ich vermute, daß diese Übersetzung auch dem Raumzeitkonzept der beiden Autoren geschuldet ist, das sie als „Heterotopie“ und als „ Heterochronie“ beschreiben. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.62ff. und S.66) In diesem Sinne sprechen sie von einer „Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft“ (Masschelein/Simons 2010, S.66), in die sie auch die Gemeinschaft mit ihrer Last bzw. Verantwortung einordnen.

Die ‚Last‘ dieser Gemeinschaft hat drei Ebenen: zum einen geht sie aus einem referentiellen Dreieck hervor, das eine Gemeinschaft von Lernenden mit dem Gegenstand ihres Interesses bildet und aus dem Professor/Lehrer, dem Studenten/Schüler und dem Lerngegenstand besteht. Es ist allererst dieser Gegenstand, der die Gemeinschaft stiftet, im Sinne einer ‚Welt‘, in der dieser Gegenstand vorkommt und in der die Lernenden nun mit ihm zusammenleben müssen. Die ‚Welt‘ besteht nur aufgrund dieses Gegenstandes, und bei fehlendem Interesse der Lernenden, die dann auch keine Lernenden mehr wären, gäbe es diese Welt nicht: „Die Welt in unserer Auffassung ist etwas, das auch nicht sein kann, etwas, das nicht notwendig ist.“ (Masschelein/Simons 2012, S.95) – Diese Welt hat also keine Notwendigkeit, sie hat keine Funktion, und deshalb bildet sie auch keine Netzwerk-Umgebung. (Vgl. ebenda)

Diese Lerngemeinschaft erinnert an die Sachgemeinschaft, von der Helmuth Plessner spricht. (Vgl. meinen Post vom 15.11.2010) Allerdings besteht die Plessnersche Sachgemeinschaft aus Erwachsenen. Das sehen Masschelein und Simons anders. Auf einer anderen Ebene bildet die Gemeinschaft nämlich eine Last, die der Erwachsene mit sich selbst, mit seinem eigenen Erwachsensein bzw. mit der „dunklen Seite dieses Erwachsenseins“ hat, wie Masschelein und Simons schreiben. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.87) Bei dieser dunklen Seite handelt es sich um etwas, „das wichtig, aber nicht einsatzfähig ist, etwas, das nicht produktiv ist oder werden kann, das eher mit Passivität als mit Aktivität zu tun hat und sich, konfrontiert mit allen möglichen Aktivierungsprogrammen, scheinbar still und leise zurückzieht.“ (Vgl. ebenda) – Es ist gewissermaßen das innere Kind, „dem wir aber nicht nachgeben dürfen, wenn wir den europäischen Bildungsraum betreten und bewohnen wollen“, das uns aber als „Passivität“, als „Last“ erhalten bleibt und zu dem wir eine Haltung finden müssen. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.88).

Und schließlich haben wir es bei der Last mit der realen Gemeinschaft mit den Kindern selbst zu tun, die sich dem Erwachsenen gegenüber in der Rolle des ewigen Zuhörers befinden und denen die Erwachsenen Worte schulden, von denen sie, also die Erwachsenen selbst, nicht wissen können, was sie bedeuten: „... es gibt immer die Position dessen, der zuhört (die Position der Kindheit). ... Ein Zuhörer zu sein, der Angesprochene zu sein, bedeutet, dass man sich nicht in einer Position befindet, die man kontrolliert.“ (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.111)

Wenn wir das fragende Kind als eine Form seiner Passivität verstehen, der wir Antworten schuldig sind, so konstituiert sich in dieser Verhältnisbestimmung zwischen dem Kind und dem Erwachsenen die dem Kind gemäße Welt: „In dieser und für diese Welt gilt es, die richtigen Worte und Gesten zu finden, ohne dass man ‚weiß‘ oder wissen kann. Die richtigen Worte und Gesten sind die, die die Last des ‚mit‘ aufnehmen, die ‚Frieden‘ und Ruhe bringen und achtsam machen, so dass etwas (Neues) geschehen kann.“ (Masschelein/Simons 2012, S.113)

Auf die Funktionsweise dieser Welt gehe ich im folgenden und letzten Post ein.

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