„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 18. August 2013

Jan Masschelein/Maarten Simons, Jenseits der Exzellenz. Eine kleine Morphologie der Welt-Universität, Zürich 2010

1. Von der Bildungsuniversität zur Welt-Universität
2. Exzellenz statt Kultur
3. Ein ortloser Standort

Die unternehmerische Universität, die ich im letzten Post besprochen habe, bildet das aktuelle, im Dienst eines ungebremsten Wirtschaftswachstums stehende Projekt des europäischen Bildungsraums. Masschelein und Simons machen sich nun daran, eine Alternative zu dieser unternehmerischen Universität zu konzipieren, die sie als „Welt-Universität“ bezeichnen. Diese Welt-Universität erinnert in vielem an das Humboldtsche Bildungskonzept, das allerdings bei der Gründung der nach ihm benannten Universität nicht vollständig – und im Laufe der Zeit immer weniger – umgesetzt wurde. Das gilt übrigens auch insgesamt für die von ihm angestoßenen und von seinen Nachfolgern fortgesetzten preußischen Bildungsreformen.

Ich möchte deshalb gleich zu Beginn dieses Posts auf einige wesentliche Punkte in Humboldts Bildungskonzept hinweisen, die in die Richtung der von Masschelein und Simons beschriebenen Welt-Universität deuten. Humboldt dachte sich die Universität nicht als einen Bestandteil der Berufsausbildung, sondern der Allgemeinbildung, die er als vollständige Menschenbildung kennzeichnete. Professoren und Studierende sollten sich als Gleiche gegenübertreten, die sich lediglich durch das geringere und höhere Lebensalter voneinander unterscheiden sollten. Die Professoren sollten von der unbefangenen Weltoffenheit der Studierenden profitieren, und die Studierenden sollten von der Erfahrung und dem Wissen der Professoren profitieren. (Vor dem Hintergrund der unternehmerischen Universität fällt es mir allerdings schwer, das Wort ‚profitieren‘ zu verwenden.)

Das eigentliche Studium sollte in der einsamen und freien Auseinandersetzung der Studierenden am Gegenstand und am Text stattfinden. Auf dieser Grundlage sollten Studierende dann mit anderen Studierenden und den Professoren in Vorlesungen und „Collegien“ zusammentreffen und sich dort über die gewonnenen Einsichten austauschen. Wann das Studium beendet war, sollten die Studierenden selbst bestimmen. Für das Ende des Studiums war kein ‚Reife‘-Zeugnis vorgesehen, weil die Professoren den Studierenden gleichgestellt waren und sie deshalb auch nicht bewerten konnten.

Wenn man sieht, was aus dieser Universitätsidee im Laufe des 19. und des 20. Jahrhunderts geworden ist, kann es einen angesichts eines so ähnlichen Konzepts, wie es Masschelein und Simons vorstellen, zur Vorsicht mahnen. Allerdings ist es gerade deren Desinteresse gegenüber den widrigen Marktbedingungen, das die Besonderheit ihres Konzepts ausmacht. Masschelein und Simons argumentieren nicht strategisch, sondern im Dienste einer Sache, die sich strategischer wie taktischer Zugriffe entzieht. Im Dienste dieser Sache etwas aus dem Scheitern der Humboldtschen Universitätsidee ‚lernen‘ zu wollen, würde bedeuten, diese Sache von vornherein verloren zu geben.

Dennoch unterscheidet sich ihr Konzept einer Welt-Universität von der Humboldtschen Bildungsuniversität. Masschelein und Simons behalten der Welt-Universität eine besondere raumzeitliche Struktur vor, die sie als „Heterotopie“ und als „Heterochronie“ kennzeichnen. Insbesondere der Begriff der Heterochronie macht hier die entscheidende Differenz zur Bildungsuniversität. Humboldt hatte in der Tat die Menschheitsgeschichte als eine Fortschrittsgeschichte konzipiert, mit einem in die Zukunft gerichteten Zeitpfeil, der immer weiter von der ‚Natur‘ wegführt. Allerdings hatte Humboldt selbst schon eine ‚Brechung‘ dieses Zeitpfeils zumindestens angedacht, insofern er diese Fortschrittsgeschichte – ‚fort‘, also ‚weg‘ von der Natur – als eine Entfremdungsgeschichte darstellte: je weiter die Menschheit sich von der Natur wegentwickelt, um so größer die Entfremdung und eben deshalb um so nötiger die Bildung, um die eigene Menschlichkeit zu bewahren.

Der auf die Zukunft gerichtete Zeitpfeil war also ein prekärer und deshalb eben ein ‚gebrochener‘ Zeitpfeil. In meinem letzten Post war davon die Rede gewesen, wie die unternehmerische Universität den Zeitpfeil zu einem „Zirkel der Exzellenz“ gekrümmt hat. Die Welt-Universität bricht Masschelein und Simons zufolge diesen Zeitpfeil nun vollständig und hebt damit im Grunde genommen jede Zeitbestimmung auf. Die Hörsäle der Welt-Universität werden zu einem „Ereignisraum“, der die Menschen „in der Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft“ versammelt. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.66) Die Zeit wird auf diese Weise „verlangsamt“ und wird zur „freien Zeit“, die dem zögernden Denken ‚Raum‘ gibt. (Vgl. ebenda)

Der Raum selbst wird aufgehoben und zur „Heterotopie“ (Masschelein/Simons 2010, S.63ff.), ein Begriff der mich an die Plessnersche exzentrische Positionalität erinnert. Die Raum der unternehmerischen Universität ist ein positionierter Raum, ein Raum der mittels eines globalen Positionssystems Positionen verteilt und diese zueinander in Beziehung setzt. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.37) Der ‚Raum‘ der Welt-Universität ist hingegen ein ortloser Standort, eine Raumzeit, „wo Leute ohne klare Position sind“. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.59) Was sie sich versammeln läßt, sind nicht ihre spezifischen Bedürfnisse und Interessen, also das, was das unternehmerische Individuum als sein „Humankapital“ versteht. Es geht ihnen nicht um das an Marktumgebungen anpaßbare und ausbeutbare Lernen, das sich im „Zirkel der Exzellenz“ (Masschelein/Simons 2010, S.34f.) zu einem „Kreis des Lernens“ schließt und in eine „endlose solipsistische Reise der Kapitalisierung des Lebens“ führt (vgl. Masschelein/Simons 2010, S.38), sondern es geht ihnen beim Lernen schlicht und einfach um etwas (vgl. Masschelein/Simons 2010, S.55). Kurz gesagt: sie sind interessiert.

Die Professoren und die Studierenden haben in der Welt-Universität keine Interessen. Dafür sind sie aber interessiert. Die von der Welt-Universität konstituierte Gemeinschaft bildet kein Netzwerk, das in sich selber zirkuliert und nur an seiner Selbstoptimierung interessiert ist, sondern sie wird von einem Gegenstand, von einer Sache konstituiert, um die herum sich Professoren und Studierende versammeln. Die Gemeinschaft bildet ein referentielles Dreieck.

Masschelein und Simons interpretieren diese Weltgemeinschaft vom lateinischen ‚communis‘ her, in dem das Wort ‚munus‘ steckt, was so viel wie ‚Last‘ und ‚Aufgabe‘ bedeutet. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.64f.) Darin steckt auch die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, und zwar Verantwortung für einen ‚gemeinsamen‘, die Gemeinschaft sozusagen stiftenden Gegenstand: „Ein Thema, das Nachdenken provoziert und eine Sache in einen Gegenstand des öffentlichen Nachdenkens verwandelt, wirft allerdings sofort die Frage auf, wie man angesichts des Themas zusammenleben soll.“ (Masschelein/Simons 2010, S.65)

Den Gegenbegriff zu dieser „Kom-munisation“ (Masschelein/Simons 2010, S.64) bildet der Begriff der Immunisierung: „Immunisierungsstrategien installieren klare Aufteilungen, Hierarchien und Rollen und halten einen davon ab, sich zu exponieren, oder verhindern, dass eine Sache zum Thema wird.“ (Masschelein/Simons 2010, S.65) – Die unternehmerische Universität bildet eine einzige solche Immunisierungsstrategie.

Sich gemeinsam und gemeinschaftlich um eine Sache herum zu versammeln, bedeutet, daß vor dieser Sache alle zu Gleichen werden. Anstatt ihre Unterschiede zu pflegen, zu fördern und schließlich zu kapitalisieren, wie in der unternehmerischen Universität, setzen sich alle gleichermaßen einer Sache aus, die der Professor, nicht als Experte, sondern als „Amateur“, also als Liebhaber, in den (heterotropen) Raum stellt. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.70) Indem der Professor die Sache in den Raum stellt und sich ein interessiertes Publikum nicht um ihn, sondern um diese Sache herum versammelt, wird die Welt-Universität geschaffen. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.69) Sie konstituiert sich als öffentlicher Raum, durch den „öffentliche(n) Gebrauch der Vernunft“ (ebenda), als Bekenntnis und als Vorlesung (vgl. Masschelein/Simons 2010, S.69f.): „In der Vorlesung spricht man in Gegenwart eines Publikums über Dinge von Belang. ... unter der Voraussetzung der Gleichheit aller in Hinblick auf die Deutung und Bewertung dessen, was im Spiel ist.“ (Masschelein/Simons 2010, S.57f.)

Diese durch die Sache gestiftete Gleichheit der um sie versammelten Gemeinschaft beinhaltet Masschelein und Simons zufolge einen „Akt der Profanierung“, wobei sie eine interessante, von Foucault inspirierte Umdeutung der Begriffe des Heiligen und des Profanen vornehmen. Als ‚heilig‘ bezeichnen sie alles, was in seiner Bedeutung für bestimmte Interessen, Machtinteressen, religiöse Interessen, unternehmerische Interessen etc. festgelegt ist, also als eine bestimmte Art und Weise zu denken oder zu sprechen. Als ‚Profanierung‘ bezeichnen sie eine Freisetzung des Denkens und Sprechens, in denen es jetzt nur noch um die Sache geht: „In der Tat, eine Sache in den Raum zu stellen schließt einen Akt der Profanierung mit ein. Tatsachen und Ressourcen werden zu Themen und möglicherweise zu Dingen von Belang, indem Worte und Dinge von bestimmten Verwendungen und spezifischen Interessen losgelöst und sozusagen frei zu jedermanns Verfügung gestellt werden. ... während der Vorlesung enthüllt etwas seinen öffentlichen Belang, das heißt es enthüllt die Frage, wie wir mit ihm leben und uns ihm gegenüber verhalten wollen.“ (Masschelein/Simons 2010, S.58)

Das Heilige ‚immunisiert‘ uns gegenüber dem Anspruch der Sache und sorgt dafür, daß wir unsere Individualität, unsere Identität, unser ‚Humankapital‘ bewahren. Die Profanierung hingegen setzt uns dem Anspruch der Sache aus und macht uns alle ihr gegenüber gleich. Und weil wir uns nun unweigerlich der Frage stellen müssen, wie wir mit dieser Sache, in der „stets die eigene Position auf dem Spiel steht“ (Masschelein/Simons 2010, S.72), zusammenleben wollen, beinhaltet die Welt-Universität nicht nur ein egalitäres, sondern auch ein experimentelles Ethos (vgl. Masschelein/Simons 2010, S.40f., 70ff.), ein im genuinen Sinne pädagogisches Experiment. Wir müssen, so Masschelein und Simons, „wenn wir Hörer einer Vorlesung sind, wir selbst und unsere Beziehungen zu diesen Dingen auf dem Spiel stehen“, beginnen, „für uns selbst zu sehen und zu denken“. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.67f.)

Deshalb beinhaltet die Welt-Universität trotz ihrer Ortlosigkeit letztlich doch auch eine Standortbestimmung, eine Positionierung gegenüber der unternehmerischen Universität: „Wir sind kein Humankapital, keine Gemeinschaft der Lernenden, keine Unternehmer, sondern Studierende und Professoren.“ (Masschelein/Simons 2010, S.74)

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