„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 3. August 2013

Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012, Berlin 3/2013

1. Kontext und Sequenz
2. Gesellschaftsselbstbeobachtung
3. Kapitalismus und Bildung
4. Marktvolk contra Staatsvolk: eine stilisierte Narration
5. Kolonialisierung der Lebenswelt
6. Zeit gewinnen versus Zeit kaufen
7. Risikoaverse Subsistenzorientierung

Wolfgang Streeck befaßt sich in seinem Buch „Gekaufte Zeit“ (2013) mit der von der Kritischen Theorie (Frankfurter Schule (Adorno, Horkheimer, Habermas etc.)) beschriebenen Phase des Spätkapitalismus, die er anders als die Frankfurter Schule nicht auf das Ende der 1979er und den Beginn der 1980er Jahre datiert, sondern auf den Zusammenbruch des Finanzkapitalismus von 2008. (Vgl. Streeck 3/2013, S.28) Dieser Zusammenbruch, mit dessen Folgewirkungen auf den Schuldenstaat, der sich innerhalb der europäischen Währungsunion in einen die einzelstaatliche Souveränität und deren nationale Demokratien aufhebenden Konsolidierungsstaat verwandelt hat, wir es bis heute zu tun haben, – dieser Zusammenbruch hat freilich seine Geschichte; und diese reicht Streeck zufolge zurück bis in die 1960er Jahre, jene Zeit also, in der die Kritische Theorie ihre eher optimistischen Krisentheorien entwickelt hatte. (Vgl. Streeck 3/2013, S.23ff.)

‚Optimistisch‘ war die Frankfurter Krisentheorie deshalb – weniger in der Adorno/Horkheimerschen, als vielmehr in der Habermasschen Variante –, weil man in der Kritischen Theorie davon ausgegangen war, daß die Einbindung des Kapitalismus in ein demokratisch kontrolliertes, gesellschaftliches Entwicklungsprojekt in den Nachkriegsjahren weitgehend gelungen sei (vgl. Streeck 3/2013, S.11), was letztlich „zur endgültigen Überwindung der wirtschaftlichen Krisenhaftigkeit des Kapitalismus“ führen müsse (vgl. Streeck 3/2013, S.24): „Zweifelhaft erschien ihr nicht die politische Steuerbarkeit des modernisierten Kapitalismus, sondern seine gesellschaftliche und kulturelle Legitimierbarkeit.“ (Streeck 3/2013, S.24)

Es ist aber ganz anders gekommen. Nicht der Kapitalismus verlor seine Legitimität in einer zunehmend an sozialer Gerechtigkeit orientierten Demokratie, sondern nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verlor die soziale Gerechtigkeit ihre Legitimität gegenüber der profitorientierten Marktgerechtigkeit des Kapitals. Dennoch behalten Streeck zufolge die kapitalismuskritischen Analysen der Frankfurter Schule ihre Gültigkeit. Die von ihr beschriebenen Spannungen zwischen Kapitalismus und Demokratie prägen von den 1960er Jahren an die soziale Struktur der westlichen Staatengemeinschaft. Die aktuelle, mit dem Jahr 2008 einsetzende Bankenkrise bildet letztlich nur die abschließende Phase einer bis in die 1960er Jahre zurückreichenden „Entwicklungssequenz“. (Vgl. Streeck 3/2013, S.13f.)

Mit dem Begriff der „Entwicklungssequenz“ wendet sich Streeck gegen einen soziologischen Synchronismus, dem zufolge die Gesellschaft als Gesamtsystem aus an ihrer Selbsterhaltung interessierten Subsystemen besteht. Veränderungen kommen hier nur im Rahmen evolutionärer Zeiträume zustande. Wofür sich die Soziologen interessieren, sind vor allem die Selbsterhaltungs- und die wechselseitigen Steuerungsmechanismen der gegebenen sozialen Systeme. Aber auch diese Systeme, so Streeck, realisieren ihre Selbsterhaltung „in der Zeit“ und, „wenn es um Anpassung und Wandel sozialer Institutionen oder ganzer Gesellschaften geht, nur über längere Zeit hinweg.“ (Vgl. Streeck 3/2013, S.13f.)

Die Synchronie der gesellschaftlichen Struktur wird also durch die Diachronie von Entwicklungsprozessen, deren Dynamik wir nicht vorhersagen können, durchbrochen. (Vgl. Streeck 3/2013, S.11f.; vgl. auch meinen Post vom 22.05.2013) Erst im Rückblick lassen sich, für Zeitgenossen bloß als „marginal“ eingestufte Momente einer solchen Entwicklungssequenz in ihrer strukturbildenden Qualität dingfest machen. (Vgl. Streeck 3/2013, S.10) Das erinnert an die „shifting baselines“, die für Zeitgenossen nicht nur ‚marginal‘, sondern völlig unbemerkt bleiben. (Vgl. meinen Post vom 31.03.2011)

Eine Entwicklungssequenz hat also den Charakter einer Lebenswelt. Dazu paßt auch der Begriff des Kontextes, den Streeck als eine räumliche Struktur beschreibt: „Raum, der durch Nähe konstituierte soziale Kontext, ist nicht weniger grundlegend für Gesellschaft als Zeit ...“ (Streeck 3/2013, S.11f.)

Die Unmerklichkeit des sozialen Wandels und die räumliche Nähe des sozialen Kontextes bilden also die Herausforderung für eine Soziologie, die ihren Gegenstand, die Gesellschaft, im Schnittpunkt von Synchronie und Diachronie, von Kontext und Sequenz, verortet: „Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse werden erst dann wirklich zu solchen, wenn man sie mit einem Zeit- und Raumindex versehen kann.“ (Streeck 3/2013, S.11f.)

Streeck beschreibt die Methode, mit der er diese, vier bis fünf Jahrzehnte umfassende Entwicklungssequenz aus der Unmerklichkeit eines langandauernden gesellschaftlichen Wandels hervorheben will, als stilisierte, historische „Narration“. (Vgl. Streeck 3/2013, S.12 und S.26) In diesem Sinne bilden auch die zahlreichen „Verlaufsdiagramme“ (Streeck 3/2013, S.12), mit denen Streeck Entwicklungssequenzen sichtbar machen will, stilisierte Narrationen. Der Begriff der Narration verweist einerseits auf den inneren, strukturellen Zusammenhang einer Entwicklungssequenz, also auf ihren Sinn, und die ‚Stilisierung‘ weist darauf hin, daß es hier nicht um die exakte Berücksichtigung von und Belegbarkeit mit historischen Daten geht. Das macht das Narrative an Streecks Vorgehen aus.

Damit erinnert Streecks stilisierte Narration von Ferne an die Kasuistik, wie ich sie in mehreren Posts als einen typischen Bestandteil geistes- und handlungswissenschaftlicher Methodologien beschrieben habe. (Vgl. meine Posts vom 26.07.2012 und vom 15.04.2013) Das umso mehr, als Streeck gesteht, daß ihm „Soziologie ohne Geschichte, Lokalkolorit und Platz für das Exotische und oft Absurde des sozialen und politischen Lebens schnell langweilig“ werde. (Vgl. Streeck 3/2013, S.16f.) Aber das täuscht. Streeck bleibt vielmehr immer eng am historischen Gegenstand. Es ist dieser Gegenstand selbst, der als Erzählung präsentiert wird. Und was wir aus ihr zu lernen haben, ist wohl eher ohne Beispiel, eine „Situation“ nämlich, „für die es keinen Präzedenzfall gibt“. (Vgl. Streeck 3/2013, S.29)

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