„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 7. August 2013

Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012, Berlin 3/2013

1. Kontext und Sequenz
2. Gesellschaftsselbstbeobachtung
3. Kapitalismus und Bildung
4. Marktvolk contra Staatsvolk: eine stilisierte Narration
5. Kolonialisierung der Lebenswelt
6. Zeit gewinnen versus Zeit kaufen
7. Risikoaverse Subsistenzorientierung

Mit dem Stichwort „Kolonialisierung der Lebenswelt“ will ich die von Streeck beschriebene Verwandlung der Masse der Lohnabhängigen in Profitabhängige (vgl. Streeck 3/2013, S.48) auf eine weiter zurückreichende historische Grundlage stellen. Bei dem von Habermas geprägten Begriff der „Kolonialisierung“ geht es um das Eindringen von ökonomischen Systemimperativen in die Lebenswelt. (Vgl. meine Posts vom 15.01. und vom 17.01.2013) Mit den „ökonomischen Systemimperativen“ sind die Verwertungs- bzw. Profitinteressen des Kapitals gemeint, die mit den lebensweltlich verwurzelten Kommunikationsformen der Menschen nicht vereinbar sind.

Deutlicher noch als Habermas hat Christina von Braun gezeigt, daß das Geld in seiner nominalistischen Form die natürlichen Gemeinschaftsbindungen zersetzt und sich selbst an deren Stelle setzt. (Vgl. meine Posts vom 28.11. und vom 04.12.2012) In einer kurzen, wiederum stilisierten Narration, die ich in einem Post als Nachzeichnung von ‚Bedeutungslinien‘ gekennzeichnet habe (vgl. meinen Post vom 21.12.2012), kann man sich das wie folgt vorstellen:

Das Geld saugt wie ein Vampir die leiblich vermittelte Lebenskraft insbesondere des männlichen Menschen ab, indem es ihn ‚kastriert‘ und die so ziellos gewordene Fruchtbarkeit in den Dienst seiner Selbstverwertung stellt: statt Kinder und Kindeskinder werden Zins und Zinseszins produziert. Die Abwendung von der biologischen und die Hinwendung zur geistigen Fruchtbarkeit wird von einem Glaubenssystem unterstützt, zu dessen zentralen Riten es gehört, den Gläubigen die sonntägliche Verwandlung von Wein und Brot in das Fleisch und Blut seines auferstandenen Gottes vor Augen zu führen. Das Geld dringt unter Verwendung von geprägten Geldmünzen nachempfundenen Hostien in diesen Kreislauf der ständigen Transformation von Materie in Symbole und wieder zurück in Materie ein und ‚profitiert‘ nun von einem unendlichen ‚Kredit‘, dessen Rückzahlung auf ein anderes Leben verschoben ist.

Zugleich fördert der Glaube an die unendliche Transformierbarkeit von Gütern in Geld und von Geld in Gütern Technologien, die sich von der Materie immer unabhängiger machen, sie schließlich in Information verwandeln, die wiederum in Materie zurückverwandelt werden kann. Das Paradebeispiel ist die Reproduktionsmedizin, eine weitere Mehrwertproduktionsmaschine, die nebenbei auch noch Kinder produziert.

Das Geld hat also die leiblich bzw. biologisch vermittelten Gemeinschaftsformen vollständig durchdrungen und aufgelöst: wo Geld ist, kann keine Gemeinschaft sein, – auch keine europäische. Unter einem etwas anderen Blickwinkel geht es hier auch um die von Streeck angesprochene Problematik der kulturellen und lebensweltlichen „Heterogenität“ (Streeck 3/2013, S.245) von europäischen Regionen, für die die demokratisch verfaßten Nationalstaaten für ihr Überleben, das durch das über diese kulturelle Vielfalt hinweggehende „Mehrebenenregime“ (Streeck 3/2013, S.118) des Konsolidierungsstaates bedroht ist, so etwas wie unverzichtbare Reservate darstellen (vgl. Streeck 3/2013, S.246ff.): „Mehrebenenpolitik im internationalen Konsolidierungsstaat bewirkt die Mediatisierung und Neutralisierung der Innenpolitik der beteiligten Nationalstaaten durch Einbindung in supranationale, ihre Souveränität begrenzende Vereinbarungen und Regelwerke.“ (Streeck 3/2013, S.161)

Diese supranationalen Regelwerke setzen sich über die demokratisch kontrollierte Verantwortung nationaler Regierungen hinweg und zwingen ihnen Veränderungen auf, die vom Staatsvolk nicht eigens noch einmal autorisiert werden müssen. Hier wird „Demokratie durch Märkte domestiziert ... statt umgekehrt Märkte durch Demokratie.“ (Streeck 3/2013, S.163)

Wir haben es hier mit einem unmittelbaren Durchregieren des europäischen Konsolidierungsstaates auf nationalstaatlich nicht mehr geschützte, kulturell geprägte Gemeinschaftsformen zu tun. So weit entspricht Streecks Analyse des europäischen Konsolidierungsstaates und seines wichtigsten Instrumentes, dem Euro, den von Habermas und von Braun beschrieben Effekten einer Kolonialisierung der Lebenswelten.

Allerdings verleiht Streeck den „historisch gewachsenen Unterschiede(n) zwischen den europäischen Völkern“ (Streeck 3/2013, S.256) ein zu großes Gewicht.  Er traut ihnen eine Widerstandkraft zu, die sich von der „Rhetorik der internationalen Schuldenpolitik“, die von „monistisch konzipierte(n) Nationen als ganzheitliche(n) moralische(n) Akteure(n)“ ausgeht (vgl. Streeck 3/2013, S.134), nicht dummschwätzen läßt. Das mag für offensichtliche Verlierernationen wie Portugal und Griechenland zutreffen. Insgesamt aber vernachlässigt Streeck die innere Beteiligung der Masse der Bevölkerung, ob nun lohnabhängig oder arbeitslos, am über alle kulturellen Differenzen hinweggehenden Konsumismus.

Es ist insbesondere der Technikcharakter dieses Konsumismus, der unterschiedslos in Ost und West und Nord und Süd die Massen für sich begeistert. Die Einheit der Welt ist Norbert Bolz zufolge weniger eine wirtschaftliche, als vielmehr „eine rein technologische“. (Vgl. Bolz 2012, S.19; vgl. auch meinen Post vom 23.04.2013) Man kann sich sehr wohl eine jederzeitige Empörungsbereitschaft des Staatsbürgers gegen den Ausschluß von staatlich garantiertem Wohlstand vorstellen; aber der Widerstand gegen eine ständige, marktkonforme Revolutionierung innovativer Unterhaltungs- und Kommunikationstechnologien tendiert wohl eher gegen Null.

Der verbreitete Glaube an die technische Potenz in der Entdeckung und Ausbeutung neuer materieller und geistiger Ressourcen ist ungebrochen. Dieser ‚Kredit‘, den die Technik weltweit genießt, ist aber letztlich der des Geldes. Solange wir den destruktiven Nihilismus nicht durchschauen, der diesem ‚Kredit‘ innewohnt (vgl. meinen Post vom 15.12.2012), wird die Empörungsbereitschaft der Verlierer des Kapitalismus ins Leere gehen.

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