„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 9. August 2013

Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012, Berlin 3/2013

1. Kontext und Sequenz
2. Gesellschaftsselbstbeobachtung
3. Kapitalismus und Bildung
4. Marktvolk contra Staatsvolk: eine stilisierte Narration
5. Kolonialisierung der Lebenswelt
6. Zeit gewinnen versus Zeit kaufen
7. Risikoaverse Subsistenzorientierung

Es sind vor allem die Risikobereitschaft und das Sicherheitsbedürfnis, durch die sich Profitabhängige und Lohnabhängige voneinander unterscheiden: „‚Risikoaverse‘ Individuen ziehen es vor, Arbeitnehmer mit niedrigen, dafür aber sicheren Arbeitseinkommen zu sein, ‚risikofreudige‘ dagegen werden Unternehmer mit unsicheren, dafür aber potenziell hohen Kapitaleinkommen. Während Bezieher von Residualeinkommen den Ertrag eines gegebenen Kapitaleinsatzes so hoch wie möglich zu machen suchen, sind Bezieher von Festeinkommen bestrebt, den für dieses zu leistenden Einsatz möglichst klein zu halten.()“ (Streeck 3/2013, S.48)

Dem liegt allerdings ein sehr reduzierter und dadurch irreführender Risikobegriff zugrunde. Von Ulrich Beck („Risikogesellschaft“ (1986)) kann man lernen, zwischen Risiken, die einen nur selbst betreffen, und Risiken, die die ganze Menschheit betreffen, zu unterscheiden. Außerdem gibt es Risiken, die die gegenwärtigen Generationen bedrohen, und Risiken, die künftige Generationen bedrohen. Und schließlich gibt es noch Risiken, von denen wir wissen – wobei wir hier zwischen dem diffusen Wissen des Laien und dem Expertenwissen unterscheiden müssen, das Risiken nach berechenbaren ‚Grenzwerten‘ beurteilt – und noch unbekannte Risiken, die aber zu unseren Lebzeiten künftige Katastrophen anbahnen.

Wenn also die Risikobereitschaft des Unternehmers und die „Dynamik der Kapitalakkumulation“ positiv konnotiert sind, während der auf seine Subsistenz bedachte, „risikoaverse“ Arbeitnehmer nicht zu den hochbezahlten „Leistungsträgern“ gezählt wird, sondern eher als potentiell faul eingestuft wird (vgl. Streeck 3/2013, S.48), so liegt dem eine Rechnung zugrunde, in der die von den Unternehmern eingegangenen Risiken für die Gesellschaft und die Zukunft nicht berücksichtigt werden.

Die risikoaverse Subsistenzorientierung des Lohnabhängigen hingegen würde, wenn sie als gesellschaftliche Grundhaltung aufgewertet würde, zu einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik führen, die die Lebensqualität und die Freiheitsrechte künftiger, noch ungeborener Generationen nicht gefährdet. Allerdings ist eine saubere Trennlinie zwischen Profitabhängigkeit und Lohnabhängigkeit durch den Deregulierungs- und Privaitiserungswahn der letzten Jahrzehnte nicht mehr so sauber zu ziehen. Es gibt, so Streeck, eine „Grauzone, in der sich Typen mischen, heute mehr denn je“ (vgl. Streeck 3/2013, S.48). Wenn man entscheiden kann, „(w)er und was zum Kapital gehört“, indem man sich die jeweilige „überwiegende() Einkommensart“ anschaut, so haben inzwischen auch die mit privaten Versicherungen zur Risikovorsorge ausgestatteten Lohnabhängigen eigene „Kapitalinteressen“. (Vgl. Streeck 3/2013, S.47)

Auch hier gilt, was ich am Ende meines letzten Posts geschrieben habe: wir müssen uns in sensibler Selbstbeobachtung, auch ‚Achtsamkeit‘ genannt, üben, um die eigenen Lebensrisiken wieder in Einklang mit den allgemeinen Risiken zu bringen, die eine letzte exzentrische Perspektive haben: von Satelliten herab auf einen blauen Planeten in der leeren Wüste des Weltraums.

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