„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 8. September 2013

Pädagogische Kasuistik

1. Methode
2. Ebenen wissenschaftlichen Denkens und Handelns
3. Günther Buck
4. Fallbeispiele

Grundsätzlich unterscheide ich zwischen Forschung und Lehre als den zwei wesentlichen Ebenen wissenschaftlichen Denkens und Handelns. Auf beiden Ebenen haben wir es mit Problemen der Verständigung zu tun: auf der Ebene (a) wissenschaftlicher Forschung als über die Forschung im engeren Sinne hinausgehende Momente des wissenschaftlichen Diskurses über und der Publikation von aus der Forschung hervorgegangenen Daten und Ergebnissen, und auf der Ebene (b) der wissenschaftlichen Lehre als die Notwendigkeit der Darstellung und der Vermittlung nicht nur von Forschungsergebnissen, sondern auch grundlegender wissenschaftlicher Prozeduren und Haltungen.





Diese beiden Ebenen zugehörigen Verständigungsprobleme möchte ich hier als Momente der vor allem der Forschungsebene zuzuordnenden Pragmatik und der vor allem der Lehre zuzuordnenden Ebene der Didaktik beschreiben.

Pragmatische und didaktische Verständigungsprobleme beziehen sich immer auf das problematische Verhältnis von Theorie und Praxis. In ihnen geht es um Fragen nach der Bedeutung und nach der Brauchbarkeit wissenschaftlicher Forschung. Darüber hinaus geht es in ihnen aber auch ganz grundlegend in Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen und ökologischen Problemen um die Frage der Nützlichkeit und der Begrenztheit von Wissenschaft im allgemeinen und von Technologien im besonderen.

Im engeren Sinne wissenschaftlicher Forschung stellt sich als methodisches Problem vor allem die Frage nach einer rationalen Verknüpfung von Theorie und Empirie. Empirie im weiteren Sinne umfaßt so heterogene Methoden wie das Experiment, die Statistik, die Feldforschung, die Hermeneutik, das Interview etc. Empirie im engeren Sinne eines empirischen Wissenschaftsverständnisses basiert vor allem auf dem Prinzip der Induktion, das eigentlich nur das Experiment und die kontrollierte Beobachtung meßbarer Phänomene zuläßt. Zu diesem Empirieverständnis nimmt der Psychologe Klaus Holzkamp in seiner wissenschaftstheoretischen Monographie „Wissenschaft als Handlung“ (1968) Stellung. In der Tradition von Popper beschreibt Holzkamp das Induktionsprinzip als von beobachtbaren und meßbaren Vorgängen abgeleitete Theorieentwicklung, die zu einem wissenschaftlichen Fortschritt in der Erklärung und Vorhersagbarkeit dieser Vorgänge führt. Am Anfang stehen dabei immer die beobachteten oder experimentell konstruierten Einzelfälle, und am Ende die daraus ableitbaren, Voraussagen ermöglichenden Verallgemeinerungen.

Holzkamp wendet gegen dieses Induktionsprinzip ein, daß es genau genommen eine Tautologie darstellt, die zu keinem Theoriegewinn führen kann. Angeblich soll das Induktionsprinzip Voraussagen von bekannten Gegebenheiten auf unbekannte Gegebenheiten ermöglichen. Tatsächlich handelt es sich hier aber um eine rein logische Bestimmung, in der lediglich unter der Voraussetzung gleicher Bedingungen auf das Eintreffen bestimmter Ereignisse geschlossen wird. Das ist eine logische Selbstverständlichkeit, die nichts zu der Klärung beiträgt, ob denn im gegebenen Fall tatsächlich die gleichen Bedingungen vorliegen.

Im Grunde haben wir es also mit einem infiniten Regreß zu tun, in dem das Induktionsprinzip auf sich selbst angewendet wird: Gemäß den Bestimmungen des Induktionsprinzips schließe ich unter der Voraussetzung gleicher Bedingungen von bestimmten Ereignissen auf das Eintreten anderer Ereignisse; um aber festzustellen, ob im gegebenen Fall die gleichen Bedingungen auch vorliegen, steht wiederum nur das Induktionsprinzip zur Verfügung.

Ein anderes Argument Holzkamps lautet, daß jedes empirische Ereignis unendlich viele Deutungen zuläßt. Ein trauriges Beispiel hierfür liefert der offensichtlich langsam zuendegehende Neuro-Hype, wo Neurophysiologen aufgrund dürftigster und auf problematische Weise gewonnener Daten über Gehirnprozesse weitreichende Aussagen über die Lernfähigkeit und den moralische Charakter von Menschen machen. (Vgl. meine Posts vom 05.06. und vom 06.06.2013)

Es läßt sich eben nicht ohne weiteres vom Nachweis eines bestimmten Ereignisses – selbst unter kontrollierten Laborbedingungen – auf die Richtigkeit einer bestimmten Theorie schließen. Der Wahrheitswert einer Theorie läßt sich nur sehr indirekt aus ihrer größeren Reichweite – daß sie mehr Phänomene zu erklären vermag als andere – und aus ihrer größeren Einfachheit erschließen. Nur so läßt sich auch ein wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt begründen.

Gegen das Induktionsprinzip mit seinem empirischen Primat setzt Holzkamp nun den Primat der Theorie: Experimente sind nur sinnvoll und wahrheitsfähig aufgrund einer ihnen vorausgehenden und ihnen zugrundeliegenden Theorie. Wir haben es also statt mit einem Induktions- mit einem Realisationsprinzip zu tun. Experimente realisieren eine bestimmte Hypothese und bestätigen so unter Zuhilfenahme des Exhaustionsprinzips – d.h. des Ausschlusses von ‚Störfaktoren‘ – dessen Allgemeingültigkeit. Also: erst kommen die allgemeingültigen bzw. theoretischen ‚Sätze‘, und dann kommen die experimentellen ‚Sätze‘, die ohne den Theoriebezug sinnlos sind.

Was Holzkamp in seinen wissenschaftstheoretischen Analysen nicht klären kann, ist, nach seinem eigenen Eingeständnis, wie jemand allererst auf Ideen kommt. Das ist das Problem der Heuristik. Hier spricht Holzkamp von einem Primat der subjektiven Wahrheit vor intersubjektiv begründeten, allgemeingültigen Wahrheitsansprüchen. Die „mangelnde Intersubjektivität der subjektiven Wahrheit“ ist hier, so Holzkamp, „nicht ein Ausdruck ihres illusionären, sondern ein Ausdruck ihres individuellen Charakters“. (Vgl. Holzkamp 1968, S.247) Forscher halten am Glauben an ihren subjektiven Wahrheiten berechtigter Weise auch dort fest, wo alle intersubjektiv anerkannten ‚Wahrheiten‘ ihnen widersprechen. Täten sie das nicht, gäbe es keinen wissenschaftlichen Fortschritt.

Holzkamp wendet sich nicht nur gegen das empirische Induktionsprinzip als wissenschaftliche Methode. Er bestreitet auch seine alltägliche Gültigkeit in unserer Lebenswelt. Das „Einleuchtende“ (Holzkamp 1968, S.88ff.) am Induktionsprinzip unterliegt nach Holzkamp einer Selbsttäuschung. Wo wir glauben, allein aufgrund einer einzelnen Erfahrung zu neuen Einsichten und Erkenntnissen gekommen zu sein, oft begleitet von einem Überraschungseffekt, haben wir diese Erfahrung sinnvollerweise doch nur machen können vor dem Hintergrund vorausgehender Vorurteile, Meinungen etc.

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