„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 13. Oktober 2013

Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und zur Psychologie, Stuttgart/Berlin 2/1906

  1. Prolog
  2. Methode
  3. Grundgedanken
  4. Sprache und Individualsprache
  5. Zufallssinne
  6. Bewegung statt Verhalten
  7. Parallelismus
  8. Logik contra Selbstbeobachtung
  9. Expressivität
  10. Seele und Leib
  11. Worte statt Phänomene
  12. Anklänge
Alle großen Denker haben einen zentralen Gedanken, eine Ausgangsabstraktion, auf der sie ihre Gedankengebäude errichten. Bei Heidegger ist diese Ausgangsabstraktion das Sein, bei Husserl ist es das Phänomen, bei Schopenhauer ist es der Wille, bei Marx ist es die Ware, bei Hegel ist es der Geist, bei Kant ist es das Ding an sich. Bei Mauthner ist diese Ausgangsabstraktion, dieser allen seinen Überlegungen zugrundeliegende Gedanke die Sprachkritik. Ausgehend von dem Axiom, daß alles, was wir über die Welt wissen können, sprachlich vermittelt ist, soll die Sprachkritik diese sprachliche Vermitteltheit von Welt in allen Lebens- und Bewußtseinsbereichen des Menschen offenlegen.

Den Erkenntnisgewinn schätzt Mauthner dabei als eher gering ein: „... die Untersuchung, die ein meinschliches, ein sprachliches System in der Welt nicht zu erblicken vermag, kann kein System der Welterkenntnis bieten, kann darum vielleicht nicht einmal von der Darstellung des Verhältnisses Systematik verlangen. ... Wer Sprachkritik treiben will, ernsthaft und radikal, den führen seine Studien unerbittlich zum Nichtwissen.“ (Mauthner 2/1906, S.XIV)

Mauthner bietet also nicht nur keine neue inhaltliche und auch keine neue systematische Perspektive auf die Wirklichkeit, sondern er verweigert sich sogar einer systematischen Darstellung seiner Kritik an jeder sprachlichen Wirklichkeitsvermittlung. Denn jede Systematik bedeutet für ihn einen Rückfall in den falschen Schein einer objektiven Ordnung, die doch immer nur wieder eine aufs Neue sprachlich vermittelte Ordnung sein kann. Jeder von ihm gewählte „Ordnungsgrund“ könnte ihm, so befürchtet Mauthner, „von der ererbten Sprache souffliert“ worden sein und müßte ihm als ein letzter „Fetischismus“ ausgelegt werden. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.167) – So hat also auch sein willkürliches Vorgehen, die hohe Bilderdichte seiner Darstellung, der intuitive Metapherngebrauch durchaus Methode.

Allerdings bleibt auch dieses Vorgehen angesichts des Anspruchs, den Mauthner mit seiner Sprachkritik erhebt, zweifelhaft: „Will ich emporklimmen in der Sprachkritik, die das wichtigste Geschäft der denkenden Menschheit ist, so muß ich die Sprache hinter mir und vor mir in mir vernichten, von Schritt zu Schritt, so muß ich jede Sprosse der Leiter zertrümmern, indem ich sie betrete.“ (Mauthner 2/1906, S.1f.)

Auch dies begründet natürlich die fehlende Systematik des ganzen ca. 2100 Seiten umfassenden Werkes. Wenn ich bei jedem Schritt die zurückgelegten ‚Sprossen‘ zertrümmere, also vollständig vergesse, kann kein vergewissernder Rückblick auf den zurückgelegten Weg einen Eindruck von der Richtung vermitteln, auf die das ganze Projekt abzielt.

Bleiben wir beim von Mauthner gewählten Bild einer Leiter, so ist es natürlich klar, daß es trotzdem irgendwie ‚aufwärts‘ geht, allerdings, wie Mauthner nicht müde wird zu betonen, aufwärts in die leere Luft hinein bzw. „ein Klettern in die leere Luft hinauf“ (Mauthner 2/1906, S.323). Erkenntnismäßig hat man damit am Ende nichts gewonnen, als daß man „in der Luft“ hängt, „wie die Erde seit Kopernikus“. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.320)

Mauthner verweist immer wieder auf dieses Manko seiner Sprachkritik. Wo am Anfang Aufklärung steht, Aufklärung über die umfassenden Selbsttäuschungen des sprechenden Menschen, der mit jedem neuen Wort der Wirklichkeit näher zu kommen glaubt, sich aber tatsächlich nur immer weiter von ihr entfernt, steht am Ende der ‚Selbstmord‘, eben jenes Nichtwissen, von dem schon die Rede war: „Sprachkritik ist selbstmörderisch, weil Kritik aus der Vernunft, also aus der Sprache stammt.“ (Mauthner 2/1906, S.177)

Das ist übrigens ein weiteres Manko der Mauthnerschen Sprachkritik: Obwohl sie eigentlich zur Aufklärung über die umfassenden Täuschungsmechanismen der Sprache dienen sollte, hat Mauthner diese Sprachkritik so umfassend angelegt, daß alle Unterschiede zwischen Sprache und Vernunft, Sprache und Denken, Sprache und Gedächtnis, Sprache und Physiologie, Sprache und Wirklichkeit verschwinden. Alles ist Sprache, also auch die Sprachkritik, und so holt die Übermacht der Sprache den Sprachkritiker gerade dort wieder ein, wo er sich gegen sie zu wenden glaubt: „Zum Hasse, zum höhnischen Lachen bringt uns die Sprache durch die ihr innewohnende Frechheit. Sie hat uns frech verraten; jetzt kennen wir sie. Und in den lichten Augenblicken dieser furchtbaren Einsicht toben wir gegen die Sprache wie gegen den nächsten Menschen, der uns um unseren Glauben, um unsere Liebe, um unsere Hoffnung betrogen hat.“ (Mauthner 2/1906, S.86)

Anstatt auf der Grundlage seiner Sprachkritik zu neuen Definitionen grundlegender Begrifflichkeiten vorzustoßen, werden sie einfach alle gleichgesetzt. Im Grunde ist alle Sprache – und mit ihr die Sprachkritik – Tautologie. Das Definieren selbst verdächtigt Mauthner der Tautologie: „Nun, ich dagegen behaupte, daß jede Definition mit diesem Fehler behaftet ist; oder vielmehr: daß die Definition gar nichts Anderes ist als eine tautologische Auseinanderlegung ihres Begriffs.“ (Bd.III: Zur Grammatik und Logik, Stuttgart/Berlin, 2/1913, S.297)

Anstatt also die analytische Kraft seiner Sprachkritik an trennscharfen Definitionen zu erproben, erweitert und verengt Mauthner den Begriff der Sprache oder auch des Denkens ganz nach Belieben, wie es gerade zum jeweiligen Gedankengang paßt: „Und weil es nur dem allgemeinen Sprachgebrauch widerspricht, Atmen, Bewegung, Nahrungsaufnahme Denkakte zu nennen, weil wirklich eine fortschreitende Entwicklung besteht zwischen den Lebenserscheinungen der niedersten Tiere und den angestrengten Denkprozessen eines Philosophen, weil das Denken auch etwas wie eine Lebensäußerung ist, darum müssen wir uns hüten, den Begriff ‚Denken‘ als einen klar definierten Begriff anzusehen. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprechen und Denken wird so zu einem Wortstreit, wird abhängig von der Definition des Begriffs ‚Denken‘, die wir uns freilich bemühen müssen dem Sprachgebrauch anzupassen.“ (Mauthner 2/1906, S.191)

Einziges Kriterium, was Sprache bzw. Denken im jeweiligen Zusammenhang bedeuten soll, ist also der Gebrauch, den ‚wir‘ – bzw. Mauthner – gerade davon machen wollen.

Angesichts so starker Worte wie ‚Haß‘, ‚Hohn‘, ‚Frechheit‘ fragt man sich, warum Mauthner überhaupt den Mund aufmacht, um irgendetwas zu sagen? Seine Antwort lautet: „Eine neue kleine Veränderung will auch diese Sprachkritik dem Gesellschaftsspiel des Wissens hinzufügen, eine neue kleine Spielregel. Sie ist das Nichtigste von allem Nichtigen, sie ist der dem Spiele entfremdete Traum eines schlechten Mitspielers, solange sie mein Eigentum bleibt. Ein wenig wirklich kann sie nur werden, wenn andere Mitspieler die kleine Regel annehmen, wenn andere sich die Gedankengänge dieser Sprachkritik aneignen.“ (Mauthner 2/1906, S.39)

Mauthner will nicht, daß seine Enttäuschung angesichts des frechen Blendwerks der Sprache sein privates „Eigentum“ bleibt. Er will diese Enttäuschung mit anderen teilen, weil sie nur so zur Erkenntnis wird. So wenig Sprache Privatsprache ist, sondern nur als Mitteilung zwischen Menschen funktioniert, so sehr drängt es Mauthner aus seiner „Seelensituation“ hinaus zur Mitteilung an andere: „... ohne den Versuch eines gemeinsamen Sprachgebrauchs, wenigstens eines Gebrauchs zwischen Autor und Leser, ist keine gemeinsame Seelensituation, ist keine Mitteilung möglich.“ (Mauthner 2/1906, S.191)

Aber auch hier gibt es wieder eine sprachkritische Einschränkung: „Ein Hauptmittel des Nichtverstehens ist die Sprache. Wir wissen voneinander bei den einfachsten Begriffen nicht, ob wir bei einem gleichen Worte die gleiche Vorstellung haben.“ (Mauthner 2/1906, S.56)

Dennoch nehmen wir Mauthners Bedürfnis zur Kenntnis, wenigstens jenes ‚Nichts‘ einer neuen Spielregel zum allgemeinen Erkenntnisbetrieb der Wissenschaften beizutragen. Um so schmerzhafter war es für ihn, daß diese bescheidene Anerkennung – getreu seiner eigenen These, daß Nichtverstehen ein Hauptmittel der Sprache sei – ihm versagt geblieben ist, wie Mauthner in seiner Zwischenbilanz selbst beklagt: „In dem großen Haufen von Besprechungen meines Werkes finde ich nur fünf oder sechs Aufsätze, deren Verfasser eine Beziehung zu meinen Gedanken hergestellt haben. Ganz abgesehen natürlich davon, ob diese Beziehung freundlich oder unfreundlich war. Die Hauptmasse der Besprechungen ging an den Grundgedanken des Werkes vorüber.“ (Mauthner 2/1906, S.VIII)

Ich werde versuchen, es besser zu machen und nicht an seinen Grundgedanken vorüberzugehen. Ich bezweifle aber, daß Mauthner mit meinen Besprechungen zufriedener gewesen sein würde als mit den Reaktionen seiner Zeitgenossen.

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