„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 14. Oktober 2013

Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und zur Psychologie, Stuttgart/Berlin 2/1906

  1. Prolog
  2. Methode
  3. Grundgedanken 
  4. Sprache und Individualsprache
  5. Zufallssinne
  6. Bewegung statt Verhalten
  7. Parallelismus
  8. Logik contra Selbstbeobachtung
  9. Expressivität
  10. Seele und Leib
  11. Worte statt Phänomene
  12. Anklänge
Die Grundgedanken der Sprachkritik beinhalten hauptsächlich zwei Aspekte: die Sprache (a) als Werkzeug der Welterkenntnis und (b) als Mittel des Denkens. In der einen Hinsicht (a) – so die These – ist die Sprache völlig ungeeignet, weil sie die Welterkenntnis niemals als solche, sondern immer nur in sprachlich vermittelter Form ermöglicht – eine der vielen Tautologien, auf die Mauthner immer wieder gerne zurückkommt – und in der anderen Hinsicht (b) haben wir es mit einer Selbsttäuschung zu tun, weil die Sprache gar kein ‚Mittel‘ des Denkens ist, sondern das Denken selbst. Das beinhaltet aber wiederum ein bezeichnendes Paradox: gerade die Mitteilung von Gedanken, die ja nichts anders sind als zu Sätzen geronnene Worte, scheitert wiederum, da Mauthner zufolge Sprache Verständigung nicht etwa ermöglicht, sondern verhindert:  „Ein Hauptmittel des Nichtverstehens ist die Sprache. Wir wissen voneinander bei den einfachsten Begriffen nicht, ob wir bei einem gleichen Worte die gleiche Vorstellung haben.“ (Mauthner 2/1906, S.56).

Daß es einerseits „kein Denken ohne Sprechen, das heißt ohne Worte“ geben kann (vgl. Mauthner 2/1906, S.176), das Aussprechen dieser Worte aber beim Zuhörer nicht reflexartig zum Aufrufen der ihnen zugehörigen Gedanken führt, erklärt Mauthner damit, daß es ‚die‘ Sprache als „Abstraktum“ gar nicht gibt; wie übrigens auch die Einzelsprachen nicht. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.11) Als Wirklichkeit gibt es vielmehr nur die Individualsprachen, wie sie jedes Individuum für sich spricht, also die jeweiligen konkreten Akte des Sprechens: „... dabei bleibt es, daß die Individualsprache einer möglichen Wirklichkeit noch am nächsten kommt.“ (S.29)

Wenn also jeder Mensch von der Sprache einen individuellen, einzigartigen, letztlich unvergleichlichen Gebrauch macht, so wird auch das Aussprechen seiner Gedanken, die aber nichts anderes sind als die ausgesprochenen Worte, beim Zuhörer zu einem wiederum individuellen Gebrauch führen, so daß das, was der Zuhörer versteht, niemals identisch sein wird mit dem, was der Sprecher meinte.

Ungeachtet dessen, daß wir also alle beim Sprechen einen einzigartigen Gebrauch von ‚der‘ Sprache machen, gibt es aber dennoch ‚die‘ Sprache, die sich uns beim Sprechenlernen in unseren Gehirnbahnen und Sprechorganen eingeschliffen hat: „Der einzelne Mensch lernt mit der Sprache in wenigen Jahren die Erfahrungen von Jahrhunderten oder Jahrtausenden. ... Heutzutage lernt jedes Kind, wenn erst Knochen und Muskeln die nötige Kraft haben, gehen; es kürzt die jahrtausendelange Entwicklung so sehr ab, daß es oft binnen wenigen Tagen laufen lernt. Es scheint, als ob einzig und allein in der Möglichkeit dieser Abkürzung der Fortschritt der Menschheit bestehe.“ (Mauthner 2/1906, S.71f.)

Da also in der Anatomie des gehen lernenden Kindes der aufrechte Gang gewissermaßen ‚gespeichert‘ ist, braucht dieses Kind den aufrechten Gang nicht neu zu erfinden. Es lernt nur, die vorhanden Gehwerkzeuge zunehmend besser zu nutzen. Wie das biologische Gedächtnis dient auch das Sprachgedächtnis der Menschheit beim Sprechenlernen als eine Art Abkürzung. Das sprechen lernende Kind kann sich dieser vorangegangen Sprecharbeit seiner Vorfahren als einer Art „Realkatalog der Welt“ bedienen und nach diesem Vorbild seine eigene Welt ordnen. (Mauthner 2/1906, S.76)

Auf diese Art gewinnt aber ‚die‘ Sprache nun doch Macht über den Menschen. Dort, wo er selbst zu denken glaubt, bewegt er sich doch immer nur in den vorgegebenen Strukturen und im vorgegebenen Lexikon ‚der‘ Sprache. Wenn also Denken niemals ohne Worte funktionieren kann, so sind es letztlich diese Worte, die in uns denken, wo wir selbst zu denken glauben: „Was in uns denkt, das ist die Sprache; was in uns dichtet, das ist die Sprache. ... ‚Nicht ich denke; es denkt in mir –‘“ (Mauthner 2/1906, S.42)

Selbst dort, wo wir einen individuellen Gebrauch von der Sprache machen und uns deshalb durchaus als Subjekte des Denkens empfinden dürften, zerrinnt dieses subjektive Surplus angesichts des erwähnten prinzipiellen, wechselseitigen Nichtverstehens beim Aussprechen der Gedanken. Von hinten manipuliert durch ‚die‘ Sprache, von vorne konfrontiert mit dem Nichtverstehen der Gesprächspartner stehen „alle Menschen ... gegenseitig im Verhältnisse von Hypnotiseur und Hypnotisierten, alle Menschen lassen sich gegenseitig durch ausgesprochene Worte Zwangsvorstellungen suggerieren“. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.43) – Mauthner stellt fest, „daß der ganze geistige Verkehr der Menschen untereinander nichts weiter ist als allgemeine ununterbrochene milliardenhaft durchkreuzte Hypnotisierungsversuche und gelungene Hypnosen, welche von der ererbten Fähigkeit der Assoziationsflucht Gebrauch machen, und wobei der menschlichen Sprache die traurige Rolle zufällt, Erreger und alleiniges Ausdrucksmittel dieses künstlichen Wahnsinns zu sein.“ (Ebenda)

Was die Sprache als Werkzeug der Welterkenntnis betrifft, differenziert Mauthner den Werkzeugbegriff zwischendurch dahingehend, daß ‚die‘ Sprache, im Unterschied zu Worten, gar kein Werkzeug sei, sondern etwas, das durch Gebrauch nicht verbraucht wird, sondern immer besser wird bzw. ‚gesteigert‘ wird: „Nur Worte werden aber verbraucht, verschlissen, entwertet. ... Die Sprache ist aber kein Gegenstand des Gebrauchs, auch kein Werkzeug, sie ist überhaupt kein Gegenstand, sie ist gar nichts anderes als ihr Gebrauch. Sprache ist Sprachgebrauch. Da ist es doch kein Wunder mehr, wenn der Gebrauch mit dem Gebrauch sich steigert.“ (Mauthner 2/1906, S.24) – Ob nun ‚Werkzeug‘ oder nicht: ‚die‘ Sprache ist es nicht nur „nebenbei und zufällig“, „sie ist vielmehr wesentlich eine nützliche Erfindung.“ (Vgl. Mauthner 2/1906, S.78f.) 

Es liegt also gewissermaßen im ‚Wesen‘ ‚der‘ Sprache, daß sie gebraucht wird und daß sie nur im Akt des Sprechens wirklich ist. Zugleich ist sie aber nicht einfach nur als diese Sprechakte wirklich, was auch immer wir in diesen Sprechakten zum Ausdruck bringen wollen. Es liegt vielmehr im „Wesen der Sprache“, ein Werkzeug „zum Verstehen der Außenwelt“ zu sein, „und darum ungeeignet zu Urteilen über die Innenwelt.“ (Vgl. Mauthner 2/1906, S.235)

Mauthners Sprachkritik wendet sich also gegen ‚die‘ Sprache vor allem in ihrer Außenweltgerichtetheit: in ihrer Verständigungsfunktion und in ihrer Erkenntnisfunktion. Ihre Ausdrucksfunktion, also als Ausdruck einer subjektiven Innenwelt, ist für seine Sprachkritik nicht relevant. Sprache ist wesentlich außenweltfixiert. In dieser Hinsicht setzt Mauthner die Sprache übrigens mit dem Verstand gleich – wie auch mit vielen anderen Begriffen wie Vernunft, Gedächtnis, Seele, Sinnes- und Neurophysiologie etc.: alles ‚Sprache‘ –, und er schreibt es der Wirkungsweise der Sprache zu, daß wir alle unsere „Sinneseindrücke“ „nach außen verlegen“: die „Raumvorstellung“ „entsteht nicht durch die Sinne selbst, sondern durch unseren Verstand, durch die Sprache“. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.350)

Es gibt also keine Innenweltphänomene, weil es sie nur als Sprachphänomene gibt, und als Sprachphänomene gehören sie schon nicht mehr der Innenwelt, sondern der Außenwelt an.

Bei dieser entschiedenen Einordnung ‚der‘ Sprache als einem Werkzeug der Außenwelterkenntnis und der Zwischenweltverständigung (vgl. Mauthner 2/1906, S.19, 28f.) verwundert es doch, daß diese Sprache für ihren eigentlichen Zweck so wenig brauchbar sein soll. Nicht nur daß sie Verständigung eher verhindert als ermöglicht; auch als Erkenntniswerkzeug ist sie völlig untauglich. Immer wieder bezeichnet Mauthner ‚die‘ Sprache als „schlechtes Werkzeug für Erkenntnis“ (vgl. Mauthner 2/1906, S.84); er spricht von ihrer „Impotenz“ als Erkenntniswerkzeug (vgl. Mauthner 2/1906, S.94); dann heißt es wieder, sie sei ein  „untaugliches“ oder „elendes Werkzeug der Erkenntnis“ (vgl. Mauthner 2/1906, S.XI, 136, 369).

In einem späteren Post werde ich noch auf die Expressivität zu sprechen kommen, also auf die Funktion der Sprache für das Ausdrücken von Stimmungen und Gefühlen. Dabei wird sich herausstellen, daß Mauthner hier die Eignung der Sprache wesentlich besser beurteilt, als bei der Vermittlung von Außenwelterkenntnis. Natürlich befinden wir uns hier sowieso schon in einem Widerspruch zu seiner Behauptung, daß es eine Innenwelt bzw. Seele – und für was sonst sollten Stimmungen und Gefühle stehen? – gar nicht geben könne. Aber wenn wir das für den Moment mal beiseite lassen, so überrascht es doch, wie günstig Mauthner die sprachlichen Möglichkeiten hier beurteilt.

Mauthner hält die Sprache also zwar für ein „elendes Erkenntniswerkzeug“, dafür aber für ein „herrliches Kunstmittel“: „Denn der Dichter will immer nur eine Stimmung mitteilen. Seine Seelensituation. Was der Stimmung zu Grunde liegt, das Wirklichkeitsbild, hält die Poesie nur zusammen, wie der Strick einen Rosenkranz. Mag auch (wie es immer wieder vorkommt) falsch aufgefaßt werden, nach der Seelensituation des Lesers oder Hörers übersetzt; schadet gar nicht viel. ... Anders in der wissenschaftlichen Untersuchung. Hier soll nichts Stimmung sein, hier ist nichts ein sinnfälliger Vorgang. Die Mehrdeutigkeit jedes einzelnen Wortes wird durch kein Ganzes vorher gemildert oder gedeutet, und so kann am Ende kein Ganzes entstehen.“ (Mauthner 2/1906, S.93f.)

Mit anderen Worten: obwohl (oder gerade weil ?) die Sprache uns über die Weltwahrnehmung und in ihrer Mitteilungsfunktion immer nur täuscht, geht es doch bei der Darstellung einer „Seelensituation“ niemals nur um die Mitteilung einzelner Informationen, sondern um Stimmungen und Bilder, die als Ganzes wirken, als Gestalt, und nicht en detail. Über die Falschheit oder Verworrenheit einzelner Informationen hinweg erzeugt ein sprachliches Kunstwerk von diesen einzelnen Informationen unabhängige Stimmungsbilder, die diese Informationen zusammenhalten wie der „Strick“ die einzelnen Perlen eines Rosenkranzes zusammenhält.

Wie auch immer man Mauthners Beschreibung der „Wortkunst“ beurteilen mag, so bleibt hier doch bemerkenswert, daß er ‚die‘ Sprache hier so positiv darstellt. Und man fragt sich irritiert, wieso er ihr eigentliches Wesen an einer Funktion festmacht, für die sie offensichtlich so wenig taugt. Richtet er da nicht seine Sprachkritik auf einen Popanz, der schon beim ersten Anwehen eines Atemhauches umfallen muß? Wozu bitte 2100 Seiten Sprachkritik, wenn schon 60 Seiten zum Thema „Wortkunst“ (vgl. Mauthner 2/1906, S.91-151) zeigen, daß es in der Sprache um etwas ganz anderes geht als um Erkenntnis?

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