„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 17. Oktober 2013

Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und zur Psychologie, Stuttgart/Berlin 2/1906

  1. Prolog
  2. Methode
  3. Grundgedanken
  4. Sprache und Individualsprache
  5. Zufallssinne
  6. Bewegung statt Verhalten 
  7. Parallelismus
  8. Logik contra Selbstbeobachtung
  9. Expressivität
  10. Seele und Leib
  11. Worte statt Phänomene
  12. Anklänge
Wenn Mauthner an einer ernsthaften Anthropologie interessiert wäre, würde der Tier-Mensch-Vergleich immer auch die Frage beinhalten, inwiefern sich der Mensch trotz der gemeinsamen biologischen Evolution vom Tier unterscheidet. Mauthner interessiert sich aber mehr für die Gleichheit zwischen Mensch und Tier, wobei er sich auch gerne mal auf seinen eigenen Hund bezieht. Während es für die meisten Zoologen und Anthropologen vor allem die Sprache ist, durch die sich der Mensch vom Tier unterscheidet, fällt es besonders auf, wenn Mauthner sogar dem Hund ein Begriffsvermögen zuerkennt.

Am Beispiel des räumlichen Vorstellungsvermögens verweist Mauthner darauf, daß beide, Mensch und Hund, beim Versuch, über einen Graben zu springen, dieselben Sinnesleistungen in Anspruch nehmen müssen: „Sieht der Mensch oder der Hund jenseits des Grabens eine Erdbeere oder einen Hasen, das, was ihn lockt, so hat er doch nur die Veränderung auf seiner Netzhaut gedeutet und über den Graben hinüber projiziert, was aber wieder Verstandesarbeit war. Auf diese letzte Art von Verstandesarbeit, auf das Ausdeuten der Sinneseindrücke (auch das einfachste Sehen, Hören u.s.w. ist, wie wir jetzt wissen, Verstandesarbeit, ein Ausdeuten von Reizen, die erst durch Verstand zu Empfindungen werden) läuft alle Denktätigkeit des Verstandes hinaus. ... Ohne Begriffe oder Worte kommt auch da kein Mensch und kein Hund aus.“ (Mauthner 2/1906, S.181)

Ein weiteres Argument für das Begriffsvermögen des Hundes ist Mauthner zufolge, daß Hunde „offenbar einen Menschen von anderen Dingen, eine Katze von anderen Tieren“ unterscheiden können: „Angenommen nun auch, daß der Begriff Mensch, Katze, Rebhuhn sich an Geruchserinnerungen knüpfe, so ist doch ein deutlicher Begriff vorhanden.“ (Mauthner 2/1906, S.458)

Artbegriffe (Mensch, Katze, Rebhuhn etc.) und Raumvorstellungen weisen also auf eine Verstandestätigkeit hin, und Verstandestätigkeit ist Sprache. Da aber ein Hund, wenn er erfolgreich über einen Graben springen will, eine realistische Raumvorstellung haben muß und insofern er zwischen einem Hasen und einer Erdbeere zu unterscheiden weiß, weil er niemals für eine Erdbeere über den Graben springen würde, muß er auch – salopp formuliert – ‚sprechen‘ können. Irgendwie fühlt man sich an eine Szene von Loriot erinnert, der es sich etwas einfacher macht: weil sein Hund auf alle seine Fragen mit „Wuff!“ antwortet, schlußfolgert der Hundebesitzer, daß sein Hund sprechen kann.

Wie das Beispiel mit dem Hund zeigt, identifiziert Mauthner nicht nur Vernunft, Verstand, Gedächtnis und Bewußtsein mit Sprache, sondern auch die Sinnesphysiologie: „Gehören nicht schon die Sinne ... zu den normalen Täuschungen, zur Sprache?“ (Mauthner 2/1906, S.406)

Zwar handelt es sich bei den Zufallssinnen um eine bloß evolutionäre Wahrnehmungsform, dennoch beinhalten sie eine wiederum durch Sprache (im engeren Sinne) verstärkte Allgemeingültigkeit: „Wir werden aber einsehen, daß die Allgemeingültigkeit der Gesetze, welche wir unseren Sinnesorganen verdanken, also die Allgemeingültigkeit aller wissenschaftlichen Gesetze, sich verstehen läßt, sobald unsere fünf oder sechs Zufallssinne durch Vererbung bei allen Menschen die gleichen Zufallssinne sind. Die Gesetze der Natur- und Geisteswissenschaften werden dann zu einer sozialen Erscheinung. ... ist es die Spielregel der Menschheit, den Stoff Zucker und die Empfindung süß zu nennen, aber es ist über das Sprachliche hinaus eine Spielregel des menschlichen Organismus, nach Berührung des Stoffes mit Zunge oder Gaumen die und die besonders differenzierte angenehme Empfindung zu spüren.“ (Mauthner 2/1906, S.35f.)

Diese enge Verknüpfung von sinnesorganischen und sprachlichen „Spielregeln“ genügt Mauthner aber noch nicht. Es müssen noch andere Bewegungsformen hinzukommen: die „Bewegung des Sprechorgans“, und hier insbesondere der „letzte mikroskopische Bestandteil dieser Bewegung“ (vgl. Mauthner 2/1906, S.200), und ein konkreter Erinnerungsakt: „Der jedoch irgend eine Bewegung sein muß, wie auch an ‚der‘ Sprache wirklich nur ist die momentane Bewegung mit ihren beiden Seiten: der innerlichen Bewegungsvorstellung und der äußerlichen Schallerregung.“ (Mauthner 2/1906, S.2001)

Mit der konkreten Bewegung des Sprechorgans muß also eine Erinnerung in Form einer konkreten Nervenbewegung einhergehen (vgl. Mauthner 2/1906, S.217, 221, 257, 308 u.ö.), damit ein konkreter Akt des Sprechens zustande kommen kann. Aus der Perspektive ‚der‘ Sprache, als Sprachgedächtnis, spielen also Sinnesphysiologie (durch Außenweltbewegungen veranlaßte sinnesspezifische Nervenbewegungen), Sprechorganbewegungen (mit den damit verbundenen sprachmotorischen Nervenbewegungen) und assoziative Nervenbewegungen des Gedächtnisses als jeweils konkrete Akte zusammen und machen uns glauben, wir hätten etwas zu sagen, nur weil wir sprechen (vgl. Mauthner 2/1906, S.2).

Sprache als konkretes Sprechen ist für Mauthner deshalb nur ein weiterer Beleg für die Gültigkeit des Satzes von der Erhaltung der Energie (wobei man unwillkürlich an Billardkugeln denkt): „... wenn die einwirkende Energie der äußeren Molekülbewegungen zur Ruhe, zur Kräfteausgleichung in dem kommt, was in unserem Gehirn vorgeht und veranlaßt wird, auch dann müßte man aus dem Gesetze der Erhaltung der Energie schließen, daß keine einzige neue oder irgendwie differenzierte Wahrnehmung ohne folgendes Denken bleibt, daß dieses Denken unmöglich ohne gewisse psychologische Änderungen vor sich geht, daß – da diese neue Wahrnehmung im Gedächtnis haftet – sie sich mit der Summe der früheren Wahrnehmungen assoziiert, das heißt dem Gedächtnis oder Sprachschatz einverleibt wird, daß also auch der einfachste wirkliche Denkprozeß gar nicht möglich ist ohne Sprache, ja eigentlich identisch ist mit der Sprachbewegung, welche immer zugleich Sprachübung oder Wachstum ist. Vielleicht wäre es fruchtbar, das Gesetz von der Erhaltung der Energie nicht nur auf die Wortsprache, sondern auch auf die so verständliche Zeichensprache der Tränen und des Lachens anzuwenden.“ (Mauthner 2/1906, S.228)

Mit dieser Darstellung des Sprechakts als einer dem Gesetz der Erhaltung der Energie unterliegenden Bewegungsform gelangt Mauthner sogar zu Einsichten, die an Shledrakes nicht lokal gebundene morphogenetische Felder erinnern: „Was wir sprechen, kommt erst durch Bewegungsgefühle zu stande; was wir denken, hat unbeschriebene Molekularbewegungen im Gehirn zum Korrelat. Warum sollte unser Denken oder Sprechen mehr sein als ein Ausklingen der Bewegungen im Weltall.“ (Mauthner 2/1906, S.227) – Oder an anderer Stelle: „(N)achschwingen müßte bis ins Unendliche jeder Ton, jede Farbe, jede Erwärmung und jede elektrische Entladung, die jemals irgen(d)wo auf der Erde oder irgendwo auf der Milchstraße ihre unvergänglichen Wellenkreise begonnen haben.“ (Mauthner 2/1906, S.329)

Mauthner ist sehr bemüht, ‚die‘ Sprache bzw. den konkreten Akt des Sprechens nicht als ein spezifisch menschliches Verhalten, sondern als molekulare Bewegung, „Welle“ oder „Schwingung“ darzustellen. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.48, 282, 696) Würde er statt der (Molekular-)Bewegung das Verhalten als anthropologische Bezugsgröße nehmen, so würde er sich auf eine Phänomenebene begeben, wo er sich nicht mit „Teilaspekten“, wie Plessner sagt, also mit einzelnen Akten des Sprechens und Denkens begnügen könnte: „Menschliches Verhalten in der Fülle seiner Möglichkeiten läßt sich nicht unter einem Teilaspekt begreifen.“ („Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.XVIII)

Sprache wäre dann nicht einfach mehr ein aus lauter Abstraktionen zusammengesetztes Metaphysikum bzw. ein Religionsersatz, sondern in ihr würde sich das Verhalten des Menschen als Mensch-Welt-Verhältnis widerspiegeln. Dazu müßten aber die Phänomene, also die Wahrnehmungserlebnisse, als Qualitäten ernstgenommen werden. Stattdessen nur die Frequenzen von Schwingungen und die „ziffernmäßige Bewegung unendlich kleiner Teile“ hervorzuheben – wogegen sich Mauthner verwahrt (vgl. Mauthner 2/1906, S.226), was mich aber nicht daran hindert, ihm genau diesen Vorwurf zu machen –, führt nur zu einer bedenklichen Phänomenvergessenheit.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen