„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und zur Psychologie, Stuttgart/Berlin 2/1906

  1. Prolog
  2. Methode
  3. Grundgedanken
  4. Sprache und Individualsprache
  5. Zufallssinne
  6. Bewegung statt Verhalten
  7. Parallelismus
  8. Logik contra Selbstbeobachtung
  9. Expressivität
  10. Seele und Leib
  11. Worte statt Phänomene
  12. Anklänge
Ich habe schon in den vorangegangenen Posts mehrfach auf Parallelen in Mauthners Sprachkritik zu späteren Positionen anderer Denker hingewiesen. Zum Schluß möchte ich noch einmal auf diese ‚Anklänge‘ zurückkommen und sie in loser Folge vorstellen.

– Sheldrake (05.02.2013):
Mauthner spricht an verschiedenen Stellen von „Wellen“ und „Schwingungen“, die sich im Weltraum ins Unendliche ausdehnen, was an die nichtlokale Wirkungsweise der Sheldrakeschen morphogenetischen Felder erinnert. (Mauthner 2/1906, S.227, 282, 328f.) Aber noch interessanter finde ich seinen Vergleich des Aktionspotentials in den Nervenzellen mit der Gravitation: „Es muß die Bereitschaft in der Ganglienzelle, bevor durch eine Anregung Denken oder Sprechen ausgelöst wird, mit der latenten Gravitation des ruhenden Steines manche Ähnlichkeit haben.“ (Mauthner 2/1906, S.227) – Die ‚ruhende‘ Schwerkraft des Steines mit dem ‚ruhenden‘ Aktionspotential einer Nervenzelle zu vergleichen, hat, wie ich finde, etwas ungeheuer Anregendes. Auch Sheldrake verwendet die Gravitationsmetapher.

– Damasio (21.07.2011; 19.08.2012):
Mauthner spricht von einer kurzen Aufmerksamkeitsspanne, einem „Nadelöhr“ des Bewußtseins, das immer nur wenige Wörter eines Textes gleichzeitig wahrnimmt. (Vgl. Mauthner 2/1906, S.96, 514) Dieses Nadelöhr entspricht den „Pulsen“ des Kernselbst, wie sie Damasio beschrieben hat.

– Anders/Husserl (23.01.2011/05.05.2013):
Günther Anders kritisiert an den Fernsehnachrichten, daß die über die Monitore in die Wohnstuben abgestrahlten ‚Bilder‘ die Subjekt-Prädikat-Struktur der Nachrichten verbergen. Sätze mit ihrer Syntax bieten gegenüber den Bildern den Vorteil, daß wir es ihnen direkt ansehen bzw. anhören, daß wir es bei ihnen nicht mit der Wirklichkeit selbst zu tun haben, sondern nur mit Prädikaten. ‚Bilder‘ sind zwar auch nur Prädikate, nämlich bestimmte Blickwinkel, die nicht die ganze Wirklichkeit zeigen. Aber man sieht ihnen diese prädikative Struktur nicht an. Hier heißt ‚sehen‘ immer auch ‚glauben‘.
Husserl wiederum verweist auf die Subjekt-Prädikat-Struktur der Descartesschen Gewißheitsformel: der Gewißheit meiner selbst korrespondiert immer auch die Gewißheit einer Welt, einer Innenwelt wie auch einer Außenwelt. „Ich denke, also bin ich“, heißt deshalb vollständig: „ich denke eine Welt, also bin ich“. Erst diese Prädikatstruktur macht den Satz über die Selbstgewißheit vollständig.
Ganz ähnlich argumentiert Mauthner in seinem Kapitel zur Syntax. (Vgl. Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd.III: Zur Grammatik und Logik, 2/1913, S.185-223) Ihm zufolge bildet jeder Satz ein Prädikat. Das eigentliche Subjekt besteht in den Umständen, die das Aussprechen eines Satzes begleiten. Deshalb brauchen Sätze, wenn man die Umstände kennt, grammatisch auch nicht vollständig zu sein: „Für den, der mit den begleitenden Umständen Bescheid weiß, ist die flüchtigste Tagebuchnotiz ebenso inhaltreich und deutlich, wie der aus ihr entwickelte einfache Satz und wie die reichere Periode.“ (Mauthner 2/1913, S.191)
Fritz Mauthner zufolge ist die ganze Syntax auf diese Subjekt–Prädikat-Struktur reduzierbar. Das Satzsubjekt ist immer ein in eine Lebenswirklichkeit eingebettetes Ich bzw. Wir. (Vgl. Mauthner 2/1913, S.205) Im Gespräch haben zwei Menschen diese gemeinsame Lebenswirklichkeit unmittelbar vor Augen. Deshalb brauchen sie auch nicht in vollständigen, grammatisch wohlgeformten Sätzen zu sprechen, weil sie immer wissen, worauf sich ihre Worte beziehen. Alle Worte bilden Prädikate in Bezug auf die Situation, in der sich die Gesprächspartner während ihres Gesprächs befinden.

– Dux (10.09.2012)
Günter Dux spricht vom logischen Absolutismus, einer Selbsttäuschung des Menschen, die darin besteht, daß er allen Naturereignissen ein Handlungssubjekt zuzuordnen versucht. Ganz ähnlich kritisiert Mauthner die Übertragung des Verbums auf Naturprozesse: „Es gibt kein Verbum in der zwecklosen Natur; das Verbum ist eine Zusammenfassung unter menschlichen Zwecken.“ (Mauthner 2/1906, S.77)

– Wiesing (04.06.-05.06.2010)
Wiesing spricht in seinem Buch „Das Mich der Wahrnehmung“ (2009) davon, daß das Wahrnehmungssubjekt kein ‚Ich‘, sondern ein ‚Mich‘ bildet. Es konstruiert nicht seine Wahrnehmungserlebnisse, sondern es erleidet sie. Es ist wesentlich passiv. So sieht das auch Mauthner: „In der Wirklichkeit sind es immer die Sinne des Subjekts, welche einen Eindruck von außen erfahren, in der Wirklichkeit ist also das Beobachten, z.B. das Sehen, immer etwas Passives. Aus diesem letzten Grunde schon ist die Ursprünglichkeit der aktiven Verbalform verdächtig; aus diesem letzten Grunde schon wäre es vorstellbar, daß der Begriff ‚sehen‘ ursprünglich ‚scheinen‘ oder ‚glänzen‘ (beziehungsweise ‚beglänzt werden‘) bedeutet haben könnte. ...  Meine Empfindung ‚grün‘ ist ursprünglich die, daß ich begrünt werde, daß mich die Wiese begrünt ...“ (Mauthner 2/1906, S.298f.)

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