„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 16. November 2013

Friedrich A. Kittler, Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht, Berlin 2013

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2073, 432 S., 18,-- €)

I. Emergenz einer historischen Sensibilität: Der Dichter, die Mutter, das Kind. Zur romantischen Erfindung der Sexualität (S.9-25), Nietzsche (1844-1900) (S.26-40), Lullaby of Birdland (S.41-59), Der Gott der Ohren (S.60-75), Flechsig/Schreber/Freud. Ein Nachrichtennezwerk der Jahrhundertwende (S.76-90) — II. Kulturgeschichte als Mediengeschichte: Romantik – Psychoanalyse – Film: Eine Doppelgängergeschichte (S.93-112), Medien und Drogen in Pynchons Zweitem Weltkrieg (S.113-131), ‚Heinrich von Ofterdingen‘ als Nachrichtenfluß (S.132-159), Weltatem. Über Wagners Medientechnologie (S.160-180), Die Stadt ist ein Medium (S.181-197), Rock-Musik – ein Mißbrauch von Heeresgerät (S.198-213), Signal-Rausch-Abstand (S.214-231), Die künstliche Intelligenz des Weltkriegs: Alan Turing (S.232-252), Unconditional Surrender (S.253-271), Protected Mode (S.272-284), Es gibt keine Software (S.285-299), Il fiore delle truppe scelte (S.300-326) — III. Griechenland als seinsgeschichtlicher Ursprung: Eros und Aphrodite (S.329-341), Homeros und die Schrift (S.342-350), Das Alphabet der Griechen. Zur Archäologie der Schrift (S.351-359), Im Kielwasser der Odyssee (S.360-376), Martin Heidegger, Medien und die Götter Griechenlands. Ent-fernen heißt die Götter nähern (S.377-390), Pathos und Ethos. Eine aristotelische Betrachtung (S.391-395) — Nachwort: Mediengeschichte als Wahrheitsereignis. Zur Singularität von Friedrich A. Kittlers Werk (S.396-422)

Ich habe mich in diesem Blog schon in früheren Posts sehr kritisch zu Friedrich Kittlers Technologiebejahung und seiner Menschenfeindlichkeit geäußert. (Vgl. meine Posts vom 08.04. bis 14.04.2012 und vom 27.04. bis 03.05.2012) Dabei hatte ich ihn insbesondere mit Günther Anders und seinen technologiekritischen Studien in „Die Antiquiertheit des Menschen“ (1956) verglichen. Ich hätte mich auch vergleichend auf Stellungnahmen von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ (1947) beziehen können. Ich hatte u.a. darauf hingewiesen, daß Kittler zu diesen kritischen Technikanalysen eigentlich nichts neues hinzugefügt, sie allenfalls dem neusten Wissensstand angepaßt und lediglich deren negatives Vorzeichen in eine rücksichtslose, menschenfeindliche Zustimmung zum technologischen Potential umgewandelt hatte.

In dem überaus lesenswerten Nachwort des Herausgebers Hans Ulrich Gumbrecht wird Kittler selbst in seiner eigenen Menschlichkeit in ein anderes Licht gestellt, das ihn mir wieder als sympathisch erscheinen läßt. Letztlich stand er, folgt man Gumbrecht, den gleichzeitig philanthropischen wie misanthropischen Ambivalenzen der Andersschen, Adornoschen und Horkheimerschen Technikkritiken wohl doch viel näher, als es in seinen eigenen Texten insbesondere seiner zweiten Schaffensperiode in den achtziger und frühen neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erscheint.


Gumbrecht zeichnet Kittler als eine mit sich und der Welt hadernde Persönlichkeit, deren Menschenfeindlichkeit mit einer seltsamen Haßliebe-Verbindung zur Technik einhergeht. Wenn für Günther Anders die Atombombe und für Adorno/Horkheimer Auschwitz als Geschichtszeichen für die letztlich unheilbare Korrumpierung der menschlichen Natur stehen, so ist es bei dem technikbegeisterten Kittler der Erste Weltkrieg, mit dem Gumbrecht die „Kälte“ seiner „medienhistorischen Gegenwartsdiagnostik“ verbindet, die, so Gumbrecht, für Kittler selbst „unerträglich belastend geworden war“. Das „besondere Heldentum“ der von Ernst Jünger gefeierten „Sturmtruppen“ des Ersten Weltkriegs wird so zum „Beginn eines im wörtlichen Sinn suizidalen Selbst-Entmachtungs-Prozesses der Menschen, in dessen kalter letzter Konsequenz ihre Existenz keinen Wert und kein Versprechen mehr hat ...“ (Vgl. Kittler 2013, Nachwort, S.410)

Mit einer derartig begründeten Menschenfeindlichkeit kann ich durchaus sympathisieren. Allerdings ist diese Sympathie nur über Kittlers Person vermittelt und nicht über sein Werk. Die Konsequenz, aus dem kulturellen, menschheitsgeschichtlichen Desaster des Ersten Weltkriegs – dem alsbald weitere Zivilisationsbrüche folgten – in eine uneingeschränkte Technologiebejahung zu flüchten, bedeutet nur ein peinliches Arrangement mit diesem Desaster: wenn man das Übel nicht bekämpfen kann, so scheinen es Kittlers Bücher und Aufsätze nahezulegen, muß man es eben zu einem Gut umdeklarieren und sein künftiges Leben daran ausrichten.

Gumbrecht teilt Kittlers Werk in drei Schaffensperioden ein, in denen sich Kittler zunächst mit der Literaturgeschichte (Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre), dann mit der Mediengeschichte (achtziger und neunziger Jahre) und zuletzt mit der Seinsgeschichte befaßt (neunziger und 2000er Jahre). (Vgl. Kittler 2013, Nachwort, S.399-415) Dabei verweist das Stichwort „Seinsgeschichte“ schon auf Gumbrechts Deutung des Kittlerschen Werkes als „singulär“ (vgl. Kittler 2013, Nachwort, S.400, 403, 411, 419) und als „absolut“ originär bzw. als „absolute Innovation“ (vgl. Kittler 2013, Nachwort, S.400).

Gumbrecht überhöht die historische Bedeutung Kittlers noch dadurch, daß er seinen Tod selbst als eine Art seinsgeschichtliches Wetterleuchten darstellt. Angesichts der „Reaktionen der intellektuellen deutschen Öffentlichkeit“ auf die Nachricht von Kittlers Tod habe er den Eindruck, so Gumbrecht, „daß das ja unvermeidlich monumentalisierende Ereignis des Todes zum ersten Mal – und vielleicht zunächst bloß vorübergehend – die Struktur, Komplexität und besondere Bedeutung von Kittlers Werk in der Simultaneität seiner verschiedenen Dimensionen hatte aufscheinen lassen; zunächst noch eher als Ahnung und Versprechen von einer spezifischen Wahrheit, die sich aus der Technik unserer Gegenwart und ihrer Vorgeschichte ergeben könnte, denn im Sinn einer konturierten Einsicht oder These.“ (S.396)

Wenn man ein so gewichtiges Heideggerisches Wort wie „Seinsgeschichte“ verwendet und die Wirkung des Kittlerschen Werkes mit einer „Lichtung“ gleichstellt, in der die Wahrheit der technischen Welt zur Erscheinung kommt, die „‚in die Acht zu nehmen“ den künftigen Generationen, „die auf uns folgen werden“, auferlegt wird (vgl. Kittler 2013, Nachwort, S.421), dann wird hier letztlich doch ein Kult um Kittlers Geschreibsel zelebriert, der dem armen Kerl, der den Amerikanern das Scheitern seiner Ehe vorwarf, weil er so viele amerikanische Gastprofessuren hatte übernehmen müssen (vgl. Gumbrecht 2013, Nachwort, 2013, S.405), nicht wirklich gerecht wird.

Worin aber besteht denn nun diese Seinsgeschichte, die sich durch Kittler hindurch verwirklicht? Denn er selbst kann vor diesem Hintergrund kaum als Autor und Selbstdenker begriffen werden. Eher haben wir es mit einer Seinsgeschichte in Form einer „Geisteskrankheit“ zu tun, – ein Thema, für das sich Kittler ja auch interessierte. (Vgl. Kittler 2013, Nachwort, S.402) Oder noch einmal anders formuliert: Wo dem Wetterleuchten der Seinsgeschichte nur der Standard elektronischer Medien standzuhalten vermag, treten die „Schaltpläne“ der Musikanlagen und die „Typennummern der eingesetzten Synthesizer“ an die Stelle individueller Autorschaft. (Vgl. Kittler 2013/1982, S.74)

Gumbrecht beschreibt die ‚Seinsgeschichte‘ – und das ist nun wirklich interessant – als eine mit Kittlers Biographie verknüpfte Aufdeckung von historischen und epistemischen Konstellationen. Wenn wir einmal von Heidegger und seiner Seinsgeschichte absehen, haben wir es hier mit einer mit der Person des Wissenschaftlers verbundenen transdisziplinären Konfiguration zu tun, in der Sinndimensionen der menschlichen Geschichte in den letzten hundert und meinetwegen auch den letzten zweieinhalbtausend Jahren sichtbar werden. Aber eben nur Sinn-Dimensionen und keine Seinsgeschichte!

Friedrich Kittler, von Haus aus Germanist bzw. Literaturwissenschaftler, hat sich nicht von Fachgrenzen einschränken lassen wollen und wurde letztlich zum auf allen Gebieten der Kulturgeschichte und der Technikgeschichte dilettierenden Autodidakten. Das haben die jeweiligen Fachkollegen nicht unbedingt gern gesehen, und wenn ihm „kompetente Altphilologen“ bei seinen Griechenlandstudien nicht folgen wollten, hatte das wiederum Kittler ‚irritiert‘, wie Gumbrecht schreibt (vgl. Kittler 2013, Nachwort, S.412); wobei Kittler selbst gern voller Verachtung auf jeden Geisteswissenschaftler herabblickte, der seiner Techno-Expertise nicht das Wasser reichen konnte.

Kittler war also letztlich Autodidakt und hat die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen miteinander in Verbindung gebracht, indem er die streng innerdisziplinären Diskurse mit ihren Formeln und Begriffen aufbrach und interdisziplinär frei assoziierte. Gumbrecht spricht von einem Kittlerschen „Assoziationsnetz“, das durch „Teil-Affinitäten“ und „Familienverwandtschaft“ zusammengehalten wird: „Rockmusik und Schrebers Schriften über das Motiv der Geisteskrankheit (zum Beispiel); oder Schreber und Nietzsche durch die Betonung der Körperlichkeit. Aus der erstaunlichen, stets philologisch genau dokumentierten Vielfalt solcher Beziehungen erwuchs bald ein immer komplexeres und wohl auch immer stabileres Assoziationsnetz, das Kittler in betont indikativischer, oft sogar ‚streng wissenschaftlich‘ erscheinender Sprache beschrieb, so als ob es ein materieller Gegenstand sei.“ (Kittler 2013, Nachwort, S.402f.)

Gumbrecht beschreibt hier eine Form der Interdisziplinarität, in der der semantisch-metaphorische, an Blumenbergs „Theorie der Unbegrifflichkeit“ erinnernde Zusammenhang (Familienverwandtschaft) zwischen den Disziplinen eine ‚mythographische‘ Einstellung des Wissenschaftlers erfordert. (Vgl. Kittler 2013, Nachwort, S.403) Dieser spürt in seiner Arbeit, die sich zugleich mit seiner Biographie verbindet, einer transdisziplinären ‚Wirklichkeit‘ nach und macht sie insofern auf ‚zentripetal‘-indikative Weise, wie Gumbrecht schreibt (ebenda), sichtbar, als er mit autoritärer Geste auf das Zentrum dieses „Assotziationsnetzwerkes“ hinweist.

Das Zentrum dieses Assoziationsnetzwerkes bildet aber nicht irgendeine gleichermaßen ahistorische wie seinsgeschichtliche Wahrheit, sondern die eigene Biographie. Kittler hatte über die verschiedenen Schaffensphasen hinweg niemals einmal erarbeitetes Wissen und gefundene Einsichten einfach hinter sich gelassen, sondern in seine neuen Projekte übernommen und integriert. Das verlieh seinem Eklektizismus eine innere „Kohärenz und Gestalt“ und machte so eine ansonsten verborgen bleibende „Wahrheit“ sichtbar. Diese biographische Entwicklung und Aufbewahrung von Texten und ihr Wiederaufgreifen für eine aktuelle, erneuerte Textproduktion mit ihrem steten Bezug auf die eigene, ebenfalls sich weiter entwickelnde Persönlichkeit beschreibt Kittler am Beispiel Goethes, den er als „Archivar seiner Autorschaft“ kennzeichnet. (Vgl. „Lullaby of Birdland“ (2013/ 1991), S.41-59: 42)

Das hat allerdings weniger etwas mit Seinsgeschichte zu tun, wie ich noch einmal betonen möchte; auch wenn Kittler Gumbrechts Zusammenfassung der Nachrufe auf ihn gefallen hätte. Denn auch Goethe soll, wie Kittler schreibt, die „Regeln“ einer „Literatur“ selbst dort, wo er sie selber ausformuliert hat, nicht aus freien Stücken und eigener Entschlußkraft befolgt haben. (Vgl. Kittler 2013/ 1979, S.41f.) Also auch hier wieder keine wirkliche Autorschaft.

Ich denke aber, daß es sich bei der biographischen Entwicklung und Darstellung wissenschaftlichen Wissens um eine transdisziplinäre Sinndimension handelt, die sich den einzelwissenschaftlichen Disziplinen notwendigerweise entzieht, aber deren „Kohärenz und Gestalt“ durch die Person des Autors verbürgt wird. In diesem Sinne können wir heute tatsächlich immer noch von Kittlers Studien und Analysen profitieren, ohne seine damit verbundenen Positionen und Proklamationen, die er uns mit missionarischer Geste aufzudrängen versuchte, teilen zu müssen. Es ist vielmehr seine Menschlichkeit, die uns berührt.

Die von Gumbrecht behauptete singuläre Bedeutung von Kittlers Werk sehe ich deshalb weniger in dem Ereignis einer Wahrheit, für die die Technik einen „Vorzugs-Ort“ bildet. (Vgl. Kittler 2013, S.418) Die Technik enthüllt keine Wahrheiten. Sie verschleiert sie eher, insofern sie dem Menschen seinen tatsächlichen Ort in der Welt verbirgt. (Vgl. meine Posts zu Hans Blumenberg vom 07.08.2010 und zu Norbert Bolz vom 23.04. bis zum 30.04.2013)

Es ist vielmehr die Verknüpfung seiner Person mit seinem Wissen, die sein Werk einzigartig macht und die sowohl eine transdisziplinäre Methodik für die Herausarbeitung geschichtlicher Bedeutungslinien bildet wie auch sein tragisches Scheitern an den Ambivalenzen unserer Menschlichkeit zum Ausdruck bringt. Wie sehr Kittler hier seine eigene Menschlichkeit einbringt, wird nirgendwo ergreifender deutlich als in seinem Aufsatz „Lullaby of Birdland“ (Kittler 2013/1979, S.41-59), wo er den Atemhauch, an der Grenze der Sprache zum Sprachlosen, einmal am Beispiel von „Wandrers Nachtlied“ als letzten Akt des Sterbens und ein andermal als ersten Akt der Beseelung des Neugeborenen durch die Stimme der Mutter beschreibt.

In den nächsten Tagen oder auch Wochen werde ich in lockerer Folge Einzelbesprechungen zu Kittlers Buch posten, von denen die heutige zu Gumbrechts Nachwort den Auftakt bildet.

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