„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 17. November 2013

Friedrich A. Kittler, Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht, Berlin 2013

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2073, 432 S., 18,-- €)

I. Emergenz einer historischen Sensibilität: Der Dichter, die Mutter, das Kind. Zur romantischen Erfindung der Sexualität (S.9-25), Nietzsche (1844-1900) (S.26-40), Lullaby of Birdland (S.41-59), Der Gott der Ohren (S.60-75), Flechsig/Schreber/Freud. Ein Nachrichtennezwerk der Jahrhundertwende (S.76-90)

1. Verdopplungen und Tautologien
2. Phantasmen statt Phänomene; Imagination statt Bewußtsein
3. Wahnsinn als Wahrheit der technischen Welt
4. Expressivität

Kittler hat es mit Doppelgängern und Tautologien. Das hat einerseits etwas mit seiner Medientheorie zu tun, derzufolge die elektronischen Medien den Menschen ersetzen. Das hatte auch schon Günther Anders (1956) gewußt. (Vgl. meinen Post vom 23.01.2011) Die Menschen verlieren angesichts der Realität und der Effektivität der Technik an Substanz und werden schließlich, so Anders, zu Phantomen, die nur noch ihre künstlich erzeugten Phantomdoppelgänger auf den Bildschirmen widerspiegeln.


So auch Kittler. Darüberhinaus aber agiert er selbst als ein Wiedergänger und biographischer Doppelgänger historischer Persönlichkeiten wie Paul Flechsig (1847-1929) und Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), was Gumbrechts These aus dem Nachwort zur Singularität des Kittlerschen Werkes ein weiteres Mal einschränkt. Parallelen zu Goethe gibt es hinsichtlich der Verbindung von Biographie und wissenschaftlicher Arbeit, wobei bei Goethe noch seine künstlerische Arbeit hinzukommt. Kittler bezeichnet Goethe als „Archivar seiner Autorschaft“, der seine Texte sorgfältig aufbewahrt und immer wieder gesichtet und neu geordnet, überarbeitet und unvollendet gebliebenes fortgeführt, wieder zur Seite gelegt und zum Teil erst Jahrzehnte später vollendet hatte. (Vgl. Kittler 2013/1979, S.41f.) Diese Kontinuität findet sich auch in Kittlers eigenem Werk wieder.

Diese Parallele zu Goethe ist bemerkenswert, aber nicht bedenklich. Bedenklich wird es erst bei Kittlers Darstellungen zur Person von Paul Flechsig, einem Psychiater und Hirnforscher an der Universität Leipzig. Was Friedrich A. Kittler zu Paul Flechsig zu sagen weiß, erinnert auf gespenstische Weise an ihn selbst. Er, der es selbst schon früh für nötig gehalten hatte, den Geist aus den Geisteswissenschaften auszutreiben, schreibt über Flechsig: „Flechsig, von Hause aus Anatom, kennt auch und gerade bei Psychosen nur Reales – hirnphysiologisch umschriebene und beschriebene Lokalitäten. Weshalb er dem Wort ‚Geisteskrankheit‘ stets das Wort ‚sogenannt‘ beifügt und, weil es ‚keine selbständigen Erkrankungen der Seele ohne solche des Körpers gibt‘,() das korrekte Wort Nervenkrankheit bevorzugt.“ (Kittler 2013/1984, S.81)

Es war dieses „sogenannt“, das mir ein leichtes Gruseln über die Haut laufen ließ. Denn Kittler selbst ist es, der in allen seinen Texten niemals versäumt, dem Wort ‚Mensch‘, so er es denn überhaupt verwendet und nicht stattdessen lieber von ‚Leuten‘ spricht, ein ‚sogenannt‘ beizufügen. Die weitgehende Abschaffung des Menschen, die diesen lediglich noch als Phantom und Doppelgänger elektronischer Medien zur Kenntnis nimmt, hat also bei Flechsig (und Freud) ihren Ausgang genommen, so daß wir Kittlers Menschenfeindlichkeit als späten Reflex am Ende des 20. Jhdts. auf eine Personenkonstellation zurückführen können, die er selbst als ein „Nachrichtennetzwerk der Jahrhundertwende“ bezeichnet: nämlich Paul Flechsig, Daniel Paul Schreber und Sigmund Freud. (Vgl. Kittler 2013/1984, S.76-90) Kittler ist so vernarrt in diese Doppelgängerschaft, daß er gleich Freuds Namen selbst zur „Freude Freuds“ (Kittler 2013/1984, S.86) verdoppelt und künftig immer wieder gerne positive Aussagen in tiefgründig verdoppelte Negationen kleidet, mit denen er uns z.B. mitteilt, daß man „nicht nicht“ kommunizieren und „nicht nicht“ interpretieren könne und dergleichen mehr. (Vgl.u.a. Kittler 2013/1979, S.38)

Schon bei Flechsig und Freud zeigt sich, so Kittler, daß die psychiatrische und die psychoanalytische Begrifflichkeit nicht etwa Einsichten in etwas oder Erkenntnisse über etwas vermittelt, sondern die ‚Phänomene‘, die sie zu analysieren vorgibt, lediglich verdoppelt; daß sie also letztlich nur ‚Phantasmen‘ produziert. Es läßt sich, so Kittler, nicht mehr unterscheiden, was die ‚Theorie‘ und was der ‚Wahn‘ ist. Die Theorie selbst wird zum Wahn. (Vgl. Kittler (2013/1984, S.78) Das Verfahren der Psychoanalyse kennzeichnet Kittler deshalb von vornherein als Tautologie, etwa wenn literarische Werke mit psychoanalytischen Mitteln untersucht werden (vgl. Kittler 2013/1979, S.24), oder wenn er Psychoanalyse als Wortprotokoll des auf einer Couch vorgetragenen Wahnsinns beschreibt: „Keine Wissenschaft verfährt wörtlicher als Psychoanalyse.“ (Kittler 1984, S.90)

Dabei verdoppelt die Psychoanalyse den Wahnsinn nur wegen eines methodischen Dilemmas, weil nämlich der eigentliche, reale Ort des Wahnsinns, das Gehirn, zu Lebzeiten der Patientinnen und Patienten so bedauerlich unzugänglich ist: „Schon im ‚Entwurf einer Psychologie‘ von 1895 hat Freud die Seele als Schaltwerk beschrieben, wo Neuronen, gebundene und ungebundene, Bahnungen anlegen, Hemmungen umgehen, Vorstellungen besetzen usw. Der psychische Apparat (Freuds schöne Wortschöpfung) ist neuroelektrischer Datenfluß und Freud, bevor seine Hysterikerinnen ihn zur talking cure zwingen, Hirnphysiologe.“ (Kittler 2013/1984, S.78)

Aber Tautologie ist nicht gleich Tautologie. Der von Flechsig wie Kittler so sehr verachtete Mensch, dem nicht nur Flechsig als Therapeut gerne „Privatvorlesungen“ hält (vgl. Kittler 2013/1984, S.85), sondern dem auch Kittler als bestallter Professor im Hörsaal sein „Silentium!“ entgegenschallt, – dieser Mensch und Patient, nämlich der schon erwähnte Daniel Paul Schreber, ist selbst nicht einfach nur ein Doppelgänger und Papagei des Ordinarius und Rektors Paul Flechsig. Zwar weiß er sich als Autor des Buches „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ so genau der klinischen Begriffe zu bedienen, daß sich bei Flechsig/Freud Bedenken wegen der Originalität und Priorität ihrer wissenschaftlichen Theorien einstellen (vgl. Kittler 2013/1984, S.78). Aber dabei handelt es sich eben nicht um bloße Tautologien, sondern um Rekursivität.

Während Flechsig und Freud (und Kittler) den Menschen nur noch als Phantom wahrnehmen, das das Reale nur ‚spiegeln‘ kann, ist dieser Daniel Paul Schreber tatsächlich immer noch ein Mensch und deshalb rekursiv kompetent. Er vermag zu verstehen, was Paul Flechsig ihm da über seine Geisteskrankheit vorträgt, und er vermag sich sogar Gedanken zu machen über dessen wahren Absichten, über die Flechsig wohlweißlich nichts sagt. So fragt Schreber in seinem Buch vorsichtig an, „ob der  Hochverehrte Herr Geh. Rat  seinen Patienten womöglich gar nicht therapiert habe, sondern  zum Versuchsobjekte für wissenschaftliche Experimente gemacht“ habe. (Vgl. Kittler 2013/1984) – Und Kittler ist immerhin so ehrlich, dem ‚Geisteskranken‘ zuzugestehen, daß dessen vermeintlicher Paranoia angesichts der Flechsigschen Therapie durchaus ein gewisser Realismus zugrundeliegt. (Vgl. Kittler 2013/1984, S.80)

Schrebers ‚Paranoia‘ besteht nämlich darin, mit Flechsig das Gehirn als die eigentliche Seelensubstanz zu verstehen. Alle ‚sogenannten‘ Geisteskrankheiten sind Krankheiten des Gehirns, also Nervenkrankheiten. Untersuchungen am Gehirn selbst aber sind mit den damaligen Mitteln nicht möglich. Erst an der Leiche konnte das Gehirn seziert und die Krankheit lokalisiert werden. Schreber geht also zurecht davon aus, daß Flechsig nur auf seinen Tod wartet, um an sein Gehirn heranzukommen. Beide Einsichten aber, daß es keine Seele gibt, sondern nur Gehirn, und daß erst der eigene Tod dieses Gehirn dem Zugriff des ‚Neurologengottes‘ Flechsig (vgl. Kittler 2013/1984, S.90) zugänglich macht, verbinden sich zu Schrebers erwähnter ‚Paranoia‘, daß Flechsig letztlich beabsichtigt, „Seelenmord“ zu begehen. (Vgl. Kittler 2013/1984, S.84) Kittler resümiert im Schreberschen Sinne: „In dieser Klinik haben Zurechnungsfähigkeit und Sprachkompetenz, Moral und Geist ausgespielt. ... Schreber ist luzide genug, um diese Machtergreifung und d.h. seine Ohnmacht zu erkennen.“ (Kittler 2013/ 1984, S.84)

Indem Kittler Schreber zuerkennt, in seinen Überlegungen weder paranoisch noch auch nur ‚papageyisch‘ (vgl. Kittler 2013/1979, S.50), sondern eben „luzide“ zu sein, bescheinigt er ihm an dieser Stelle eine Menschlichkeit, die an seiner bloßen Doppelgängerschaft zweifeln läßt. Überhaupt zollt Kittler Schrebers Verteidigungsmaßnahmen seine Anerkennung: „Es ist das Heroische an Schreber, daß er Denkwürdigkeiten schreibt, auch wenn ein Neurologengott ihm alles Denken auszutreiben sucht.“ (Kittler 2013/1984, S.90) – Das Buch, das Schreber schreibt, soll Flechsig als Gehirnersatz dienen, an dem Flechsig bitteschön nun anstelle von Schrebers Zentralorgan seine Untersuchungen vornehmen möge.

Es ist, um mich zu wiederholen (ohne mich zu verdoppeln), gespenstisch, zu sehen, wie Kittler an Flechsig und Freud zeigt, was er selber zunächst mit seinen Literaturanalysen und später mit seinen Medienanalysen verübt: Seelenmord. Wobei er dies nur noch als Verdopplung und Tautologie dessen tun kann, was – Kittler zufolge – ohnehin technisch längst realisiert wird oder schon realisiert worden ist. In seinen eigenen Büchern häufen sich die Leichenberge des amerikanischen Bürgerkrieges und des ersten und zweiten Weltkrieges, die nach seiner Darstellung alle im Dienste der Medienproduktion gestanden haben bzw. aus denen die elektronischen Medien als Nebenprodukte – oder als Kollateralschäden – hervorgegangen sind.

Durch seine Bücher schlafwandeln seelenlose Phantome und Zombies, die alle nicht einmal mehr zu dem in der Lage sind, was Kittler als Luzidität bei Daniel Paul Schreber hervorhebt. Medien vermitteln keine Botschaften mehr, weil es niemanden gibt, an den sie adressiert werden könnten. Nicht einmal sie selbst sind noch Botschaften, wie es McLuhan (1967) sich mal gedacht hatte. Sie zeichnen nur noch das Reale auf und verdoppeln es so. An die Stelle der Rekursivität tritt die Tautologie.

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