„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 18. November 2013

Friedrich A. Kittler, Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht, Berlin 2013

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2073, 432 S., 18,-- €)

I. Emergenz einer historischen Sensibilität: Der Dichter, die Mutter, das Kind. Zur romantischen Erfindung der Sexualität (S.9-25), Nietzsche (1844-1900) (S.26-40), Lullaby of Birdland (S.41-59), Der Gott der Ohren (S.60-75), Flechsig/Schreber/Freud. Ein Nachrichtennezwerk der Jahrhundertwende (S.76-90)

1. Verdopplungen und Tautologien
2. Phantasmen statt Phänomene; Imagination statt Bewußtsein
3. Wahnsinn als Wahrheit der technischen Welt
4. Expressivität

Ein weiteres Mal komme ich auf den Unterschied zwischen Strukturalismus und Phänomenologie zu sprechen. (Vgl. meine Posts vom 20.05. und vom 02.11.2013) Kittler selbst nimmt Anleihen am Lévi-Straussischen Strukturalismus vor, wenn er den „Tausch“ als eine Form der Kultivierung von Familien darstellt. (Vgl. Kittler 2013/1978, S.12) Über den Frauentausch traten Familien miteinander in Kontakt; es entstanden ‚exogame‘, also die inzestuöse Gemeinschaft transzendierende und die Familien deshalb kultivierende Beziehungen.

Die bürgerlichen Familien hingegen sexualisieren die endogenen Beziehungen auf inzestuöse Weise, indem sie, verstärkt durch die Abschaffung der Amme, die Mutter-Kind-Beziehung kurzschließen. (Vgl. Kittler 2013/1978, S.10) Ich hatte mich schon in meinem Post vom 21.10.2013 gefragt, ob die familiär-christliche Faszination von der Unschuld des Kindes nicht die Kehrseite der Pädophilie bildet.

Jedenfalls lädt Kittler zufolge die mütterliche Zuwendung zum Kind – lesenswert sind hier insbesondere die Passagen zum seelischen Potential der Stimme der Mutter (vgl. Kittler 2013/1979, S.48ff.) – dieses mit einer einzigartigen Seele auf: „... nur weil es den Zuspruch einer Mutter gehört hat, finden im Kind all die Abwesenheiten Eingang und Namen, die ihm keine Deixis zeigen kann() und ohne die es kein bürgerliches Individuum geben würde ... Also fungiert die sanfte Stimme der Mutter als perfekter Ersatz des Opiums, das ehedem die Ammen verabreichten: Wer sie einmal gehört hat, bleibt süchtig ein Leben lang ... weil sie halb ‚Athem‘ ist, durch den das Kind ‚Empfinden‘() lernt, halb Artikulation, durch die es Sprechen lernt. ... im Zwischen von Natur und Kultur, Atem und Sprache, Laut und Rede ...“ (Kittler 2013/1979, S.50f.)

Ergreifender hat meines Wissens im Zeitalter der elektronischen Medien keiner von der bürgerlichen Erfindung der Seele geschrieben. Allerdings scheint die Seele nur erfunden worden zu sein, um in eben diesem Zeitalter dem „Gott der Ohren“ geopfert zu werden und „in Sound und Phonstärke“ unterzugehen. (Vgl. Kittler 2013/1982, S.64)

Doch zurück zur sexuellen Aufladung des Kindes mit einer Seele, an der Freud seine Freude gehabt hatte. Kennzeichen einer solchen ‚Seele‘ ist es, daß keine ihrer Regungen und Äußerungen als das genommen wird, was sie sind. Statt mit Phänomenen haben wir es mit Phantasmen und mit Phantomen zu tun, und an die Stelle des Bewußtseins tritt die Imagination. Weshalb Kittler davon spricht, daß die Familie „Kinder und Imagines“ produziert (vgl. Kittler 2013/1978, S.12). Und die bedeutungsvollste Imago ist die Mutter als Seele des Kindes (vgl. Kittler 2013/1978, S.13).

Inwiefern aber sind die Phantasmen, Phantome und Imagines nicht sie selbst? Weil sie nur Zeichen sind, wie Wegweiser, die auf etwas anderes verweisen. Sie verweisen auf eine unter der Oberfläche verborgene Infra-Struktur. Was uns Imaginationen bzw. Träume zu denken geben, muß gedeutet werden. Träume sind keine Realität aus sich selbst heraus. Ihnen muß durch Deutung erst Realität verliehen werden. Träume geben sich nicht selbst, wie Phänomene, sondern etwas anderes. Die Seele des Kindes ist nicht die Seele des Kindes, sondern die Verdopplung der Stimme der Mutter.

Aber als Verdopplung dieser Stimme, als bloßes Phantasma, beinhaltet diese Seele nicht mal mehr einen Verweis auf die reale Mutter, deren beseelende Macht, wie Kittler an Klingsohrs Märchen zeigt, in ihrer Abwesenheit besteht, so daß an ihre Stelle diverse erotische Verkörperungen und Liebesbeziehungen, das Begehren nach dem Begehren treten können. (Vgl. Kittler 2013/1978, S.12f.; 2013/1979, S.46, 50f., 55)

Das Echo der Mutterstimme verweist auf nichts anderes mehr als auf sich selbst: „Die Materialität der Zeichen verknüpft Erotologie und mediale Ästhetik. Wenn Zeichen nicht auf Signifikaten oder Referenten gründen, schreibt nichts und niemand vor, was alles Zeichen und was Zeichen eines Zeichens sein kann.“ (Kittler 2013/1979, S.38)

Wo Zeichen nicht mal mehr auf Reales verweisen, auf Signifikate und Referenten, dort wird die Semiotik zur wichtigsten Bezugsdisziplin und tritt an die Stelle einer „ästhetischen Erziehung“, in der es noch um die (kindliche) Seele selbst gegangen war. (Vgl. Kittler 2013/1979, S.26) Kittler spricht von einer ‚Semiotechnik‘ wie andere von Kybernetik sprechen. (Vgl. Kittler 2013/1979,  S.28) Damit meint er die Reduktion des Körpers auf den Status eines Mediums (vgl. Kittler 2013/1979, S.30), so wie der Körper des neugeborenen Kindes die Stimme der Mutter in sich aufnimmt, als wäre er ein Tonbandgerät.

Semiotechnik und Kybernetik treten als Technologien an die Stelle einer Wissenschaft, die noch zur Kritik fähig ist, weil sie noch ans Subjekt glaubt, wie die Phänomenologie. Statt „Kritik“ will Kittler nur noch „Genealogie“ gelten lassen, also die Rückführung von Phänomenen auf (Infra-)Strukturen: „Genealogie heißt bei Nietzsche das Verfahren, Geschichte als Serien von Verboten und Übertretungen, Kämpfen und Spannungen zu lesen.()“ (Kittler 2013/1979, S.33)

Was Kittler dabei übersieht, ist, daß Nietzsches Genealogie eine Form der Kritik gewesen war, die die Kritik selbst der Naivität überführt hatte, – und daß er die Möglichkeit einer zweiten Unschuld in Betracht gezogen hatte.

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