„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 26. November 2013

Friedrich A. Kittler, Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht, Berlin 2013

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2073, 432 S., 18,-- €)

II. Kulturgeschichte als Mediengeschichte: Romantik – Psychoanalyse – Film: Eine Doppelgeschichte (S.93-112), Medien und Drogen in Pynchons Zweitem Weltkrieg (S.113-131), ‚Heinrich von Ofterdingen‘ als Nachrichtenfluß (S.132-159), Weltatem. Über Wagners Medientechnologie (S.160-180), Die Stadt ist ein Medium (S.181-197), Rock-Musik – ein Mißbrauch von Heeresgerät (S.198-213), Signal-Rausch-Abstand (S.214-231), Die künstliche Intelligenz des Weltkriegs: Alan Turing (S.232-252), Unconditional Surrender (S.253-271), Protected Mode (S.272-284), Es gibt keine Software (S.285-299), Il fiore delle truppe scelte (S.300-326)

1. Seele
2. Technik und Geld
3. Intelligente Infra-Struktur
4. Statistisches Generieren von ‚Sinn‘
5. Software oder nicht Software?

Wenn bei Kittler von „Klartext“ die Rede ist, so haben wir es dabei immer mit Textstellen zu tun, die ausnahmsweise mal nichts verdoppeln, wo sonst in Kittlers Texten immer nur von Doppelgängern, Phantasmen und Phantomen die Rede ist. (Vgl. meine Posts vom 17.11. und vom 18.11.2013) Im Grunde nehmen Kittlers Klartexte auf Textebene den Status von Phänomenen ein, die ganz naiv einfach nur das zum Ausdruck bringen, was sie sind und hinter denen sich nichts verbirgt.

Als so einen Klartext empfinde ich auch eine von ihm eigentlich gar nicht so gemeinte Stelle aus Kittlers „Rock-Musik – ein Mißbrauch von Heeresgerät“ (1988). Dort heißt es über den ersten digitalen Code der modernen Medientechnik, den Morsecode, daß dieser „lange vor Saussure den Strukturalismus praktisch machte“. (Vgl. Kittler 2013/1988, S.198-213: 201)

Dieser Hinweis auf den Strukturalismus bestätigt meinen Verdacht, daß Strukturalismus und Kybernetik eine gemeinsame Geisteshaltung verbindet. Der Strukturalismus bildet insofern das anthropologische Pendant zur Kybernetik, als er als ein Amalgam aus Mathematik und Psychoanalyse verstanden werden kann, das bewußten Sinn und bewußte Wahrnehmung in „Stellenwerte“ eines Systems bzw. einer Struktur verwandelt, das bzw. die am Bewußtsein vorbei fungiert und dieses so von ‚hinten‘ bzw. von ‚unten‘ her steuert. Wahrnehmungsphänomene und Bewußtseinsinhalte werden so zu Informationen, deren ‚Werte‘ von ‚Netzplänen‘ und ‚Graphen‘ abhängen und keine subjektive Relevanz mehr haben. (Vgl. Kittler 2013/1986, S.135) Menschen werden zu Maschinen.

Eine solche Nähe von Mathematik und Psychoanalyse deutet Kittler übrigens auch in seinem Text zum „Signal-Rausch-Abstand“ (1988) an, wenn er die Psychoanalyse als eine Berechnung der „Übergangswahrscheinlichkeiten“ zwischen „Wiederholungszwängen“ beschreibt. (Vgl. Kittler 2013/1988, S.214-231: 229)

Das Morsealphabet ist zwar immer noch ein Alphabet, insofern es Worte codiert. Aber das Wort ist selbst nur ein Medium, und alle modernen Medien codieren nur noch Medien, so Kittler mit Verweis auf McLuhan: „im Fall der Schreibmaschine“ wird „die Handschrift“ verdoppelt bzw. codiert, „im Fall des Spielfilms der Roman, im Fall des Grammophons die Stimme und im Fall des Unterhaltungsradios eben die Plattenindustrie“. (Vgl. Kittler 2013/1988, S.202) – Wir haben es hier sozusagen mit dem transzendentalen Ursprung aller Verdopplungseffekte zu tun, die den eigentlichen Sender (und den eigentlichen Adressaten) vergessen machen und Phänomene in Phantasmen, Stimmen in Echos und Kommunikation in einen Rückkopplungseffekt verwandeln.

Aber dieses Vergessen beruht allererst auf einer Verschleierung: verschleiert wird, daß sich zwar die Medien verdoppeln, aber nicht die Sender und die Adressaten. Es ist nicht die Handschrift, die schreibt (sendet); es ist nicht der Roman, der erzählt (sendet); es ist nicht die Stimme, die spricht (sendet); und es ist nicht die Schallplatte, die singt (sendet).

Allerdings ist das nicht die ganze Wahrheit. Es verdoppelt sich tatsächlich noch etwas: in einer intelligenten Infrastruktur, dem Internet der Dinge, kommunizieren die Maschinen am Menschen vorbei. Ein neuer Dualismus durchschneidet die Welt.

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