„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 27. November 2013

Friedrich A. Kittler, Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht, Berlin 2013

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2073, 432 S., 18,-- €)

II. Kulturgeschichte als Mediengeschichte: Romantik – Psychoanalyse – Film: Eine Doppelgeschichte (S.93-112), Medien und Drogen in Pynchons Zweitem Weltkrieg (S.113-131), ‚Heinrich von Ofterdingen‘ als Nachrichtenfluß (S.132-159), Weltatem. Über Wagners Medientechnologie (S.160-180), Die Stadt ist ein Medium (S.181-197), Rock-Musik – ein Mißbrauch von Heeresgerät (S.198-213), Signal-Rausch-Abstand (S.214-231), Die künstliche Intelligenz des Weltkriegs: Alan Turing (S.232-252), Unconditional Surrender (S.253-271), Protected Mode (S.272-284), Es gibt keine Software (S.285-299), Il fiore delle truppe scelte (S.300-326)

1. Seele
2. Technik und Geld
3. Intelligente Infra-Struktur
4. Statistisches Generieren von ‚Sinn‘
5. Software oder nicht Software?

Wenn ich etwas nicht denken kann, dann sind es Formeln. Ich brauche Sätze mit Subjekten und Prädikaten. In dem Text, auf den ich jetzt eingehen will – „Signal-Rausch-Abstand“ von 1988 –, sind aber über die 15 Seiten fünf Formeln verstreut, so daß ich mit ihm erhebliche Schwierigkeiten habe. Dennoch bietet mir der Text die Gelegenheit, noch einmal ein Thema aufzugreifen, über das ich mich schon in früheren Posts geärgert habe: das ‚statistische‘ Sprechenlernen von kleinen Kindern.

Ich habe die Fachliteratur zu diesem Thema nicht gelesen und kann nur von den entsprechenden Bemerkungen von Raoul Schrott und Arthur Jacobs (vgl. meine Posts vom 19.07. und vom 24.07.2011) und von Carol S. Dweck (vgl. meinen Post vom 06.06.2012) auf diese Fachliteratur rückschließen. Mein wichtigstes Argument zu diesem Thema lautet, daß die Statistik eine Methode ist und kein Bewußtseinsphänomen. Gestaltwahrnehmung funktioniert als Figur-Hintergund-Konfiguration und nicht als Berechnung von Übergangswahrscheinlichkeiten wie beim Markoffverfahren. Den Sinnbegriff ordne ich der Gestaltwahrnehmung zu. Seine Struktur, als Sinn von Sinn, entspricht der Konfiguration von Figur und Hintergrund.

Ich bestreite nicht, daß sich Kinder beim Sprechenlernen u.a. auch statistischer Hilfsmittel bedienen, wenn sie nach Versuch und Irrtum vorgehen und einfach drauflos plappern, um zu sehen, was funktioniert und was nicht. Aber das Sinnverstehen selbst ist nicht Teil dieses statistischen Experiments. Letzteres funktioniert vielmehr nur auf der Grundlage des Sinnverstehens.

Kittler beschreibt nun anhand von Markoff-Ketten (vom russischen Mathematiker Andrei Andrejewitsch Markow), wie Informationen – nicht Sinn; denn in der Informationstheorie geht es nicht um Sinn (vgl. Kittler 2013/1988, S.214) – mithilfe eines statistischen Verfahrens, der Markoff-Kette, generiert werden können. (Vgl. Kittler 2013/1988, S.219f.) Dabei geht es um ‚Approximationen‘ in Richtung auf eine größtmögliche Ähnlichkeit mit einem ‚echten‘, sinnhaltigen Satz; und zwar ohne jeden Rückgriff auf Semantik! (Vgl. Kittler 2013/1988, S.219) Bei der „Approximation erster Ordnung“ werden bloß Buchstabenpaare einer bestimmten Sprache, der englischen natürlich, zusammengewürfelt. Dabei entsteht mehr oder weniger bloßes Rauschen, also ein weitestgehend sinnleeres Buchstabengebilde.

Bei der Approximation zweiter Ordnung werden „Diachronien“ berücksichtigt. Es wird also mehrmals gewürfelt, und die früheren Ergebnisse gehen in die nachfolgenden Würfelereignisse ein. Zumindestens verstehe ich Kittlers diesbezügliche Bemerkungen so. Bei der Approximation dritter Ordnung werden nicht mehr nur beliebige Buchstabenpaare der englischen Sprache zusammengewürfelt, sondern  „Buchstabentripel“. Das Ergebnis kann, wie Kittler schreibt „mit Finnegans Wake konkurrieren“. (Vgl. Kittler 2013/1988, S.219)

Einige Zeilen weiter ergänzt Kittler, daß das statistische Generieren sinnähnlicher Satzgebilde besonders beeindruckend ausfällt, „wenn die Markoff-Ketten ihre Elemente nicht mehr aus Buchstaben, sondern Wörtern schöpfen“. (Vgl. Kittler 2013/1988, S.220) – Kittler beschließt die ganze Erörterung mit der Bemerkung: „Fortan erfahren Lettern keine bessere Behandlung als Zahlen mit ihrer schrankenlosen Manipulierbarkeit, fortan sind Signale und Geräusche nur mehr numerisch definiert.“ (Kittler 2013/1988, S.220)

Was hier angeblich „ohne Semantik“, also ohne Sinn funktionieren soll, ist also schon auf der Ebene zweiter Ordnung allein dadurch sinnhaft, daß die Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen den Buchstabenpaaren aus einer bestehenden Sprache ausgewürfelt werden. Wir haben es eben nicht mit beliebigen Zahlenreihen zu tun, sondern mit einem historischen Gebilde. Das englische Alphabet funktioniert eben nicht wie das französische Alphabet, und schon gar nicht wie chinesische Schriftzeichen.

Die englische Sprache gibt durch die Orthographie der Wörter, also durch das Lexikon, einen Sinn vor, der die Berechnungen trägt und stützt. Bestimmte Buchstabenpaare sind eben nur im Englischen möglich. Noch deutlicher wird diese Sinnvorgabe an der Stelle, wo, wie Kittler vorschlägt, statt der Buchstabenpaare richtige Wörter verwendet werden.

Auch das sogenannte statistische Erlernen einer Muttersprache im Kindesalter geschieht nicht im luftleeren Raum. Abgesehen von der sozialen Interaktion bildet schon der Leib selbst mit seinen Sprechorganen und seiner Anatomie ein sinnhaftes Medium, das die Übergangswahrscheinlichkeiten bei den „Selektionen oder Filterungen eines Rauschens“ (Kittler 2013/1988, S.220) begrenzt.

Das ‚Rauschen‘, das das menschliche Sprechen begleitet und für ein Neugeborenes natürlich immens ist, ist also organisch bedingt bzw. determiniert. Es gibt auf der Ebene des Menschen und seines Bewußtseins kein unbegrenztes weißes Rauschen. Der Signal-Rausch-Abstand ist kein brauchbarer anthropologischer Begriff. Wer diesen Begriff wie auch den Begriff des statistischen Lernens verwendet, redet nicht mehr vom Menschen, sondern von Maschinen.

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