„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 2. November 2013

Sandra Maria Geschke, Doing Urban Space. Ganzheitliches Wohnen zwischen Raumbildung und Menschwerdung, Bielefeld 2013

(transcript, 357 S., 33,80 €)

1. Prolog
2. Methode
(A) Wildes Denken
(B) Kasuistik und Meditation
3. Anthropologie
4. Identitätsräume und Kommunikationsräume
5. Raumbindungsverluste
6. Gentrifizierung
7. Stadtplanung

Friedrich Kittler weist darauf hin, daß das Wort „Hauptstadt“ „vom menschlichen Körper her“ kommt (vgl. „Die Stadt ist ein Medium“ (2013/1988), S.181) und Städte ehedem in ‚Kopf‘ – „Burgberg oder Akropolis, Zitadelle oder Schloß“ (Kittler 2013/1988, S.181) – und den ganzen Rest bis zur Umgrenzungsmauer, gewissermaßen der ‚Körper‘, unterteilt gewesen sind. Das war allerdings mal.

Heute ist es anders: Städte wuchern scheinbar regellos in alle Richtungen und ähneln in organischer Hinsicht eher einem Krebsgeschwür als dem menschlichen Körper. Kittler zieht allerdings andere Analogien vor. Er vergleicht die heutigen Stadtansichten mit Computerplatinen und Chips, weil deren Infrastruktur, von oben gesehen, wie ein technisches Konglomerat aus Halbleiterbauteilen und Leiterbahnen aussieht und letztlich auch dem gleichen Zweck dient: Personen und Güter bzw. Informationen und Energien zu transportieren. Der menschliche Körper, so Kittler, hat ausgedient. An seine Stelle sind mathematische Strukturen getreten, die er auch als „Topologie“ bezeichnet. (Vgl. Kittler 2013/1988, S.183)

Mathematische Topologien erschaffen ‚Räume‘ ganz eigener Art, die nichts mehr mit dem realen Raum aus Körperdingen gemein haben. Aus solchen Topologien bestehen z.B. die Übersichtskarten von U-Bahn- und Straßenbahnnetzen. Sie bilden keine realräumlichen Größenordnungen und Entfernungen ab, sondern gewähren nur einen stilisierten Überblick über Ziel- und Umsteigestationen. Aus solchen Topologien bestehen auch Computerchips im Mikrometerbereich.

In der Topologie zählt nur die Struktur, „die unsichtbaren Verbindungen zwischen Wegen und Toren“, wie Kittler schreibt. (Vgl. Kittler 2013/1988, S.182) Die sichtbaren, realräumlichen Phänomene interessieren in der Topologie nicht. Und das ist genau das, was den Strukturalisten von dem Phänomenologen unterscheidet. Beide beschäftigen sich mit dem Raum, aber beide auf scheinbar unvereinbare Weise. Für den Strukturalismus ist der Raum der privilegierte Gegenstand der Mathematik, und über die Mathematik ist er auch der zentrale Gegenstand der Physik. Der Raum ist Husserl zufolge der einzige Sinnesgegenstand, der direkt mathematisierbar ist. (Vgl. meinen Post vom 04.05.2013) Lévi-Strauss bezeichnet den Raum aus demselben Grund als „primäre Qualität“, während sich die anderen „sekundären“ Sinnesqualitäten wie Geruch oder Geschmack einer idealen Kausalität entziehen. (Vgl. meinen Post vom 21.05.2013)

Damit haben wir auch gleich zwei Namen, die für die Phänomenologie (Husserl) und für den Strukturalismus (Lévi-Strauss) stehen. Was genau unterscheidet deren Herangehensweisen an den Raum? Strukturalisten beschäftigen sich nicht mit Phänomenen, sondern mit dem Unsichtbaren, den mathematisierbaren Strukturen, während Phänomenologen an sichtbaren Oberflächen, an Phänomenen interessiert sind. Die Strukturen liegen zugrunde; ihre Analyse führt in die Tiefe. Hier bekommt der Begriff der Infra-Struktur noch einmal eine besondere Bedeutung: es geht nicht in erster Linie um die offen zutage liegenden Linien und Kreuzungen, sondern um das, was sich auf ihnen ‚bewegt‘. Es geht nicht nur um Kon-Struktion – jeder Strukturalismus ist immer auch ein Konstruktivismus –, sondern vor allem um Steuerung, um Kybernetik. Infra-Struktur meint hier also den Strukturen zugrundeliegende Mechanismen, mit deren Hilfe sich Personen, Informationen und Energien steuern lassen.

Ein weiterer Aspekt des Strukturalismus ist, daß Strukturen keine Zentren haben. Sie sind ‚dezentriert‘, wie ein Schachbrett, eine beliebte Metapher, auf die Strukturalisten immer wieder gerne zurückkommen. Heutzutage spricht man aber lieber von Netzwerken und von Knoten und Kanten. Das Wort „Knoten“ beinhaltet dabei keineswegs eine versteckte Rückkehr eines zentralen Subjekts ins Netzwerk. ‚Knoten‘ bedeutet so viel wie ‚Umsteigebahnhof‘.

Die Phänomene hingegen sind perspektiviert bzw. ‚abgeschattet‘, wie sich Husserl ausdrückt. Sie benötigen ein zentrales Wahrnehmungssubjekt (Zentralperspektive), um Phänomene sein zu können. Und sie haben Oberflächen. Bei ihrer Analyse hat es der Phänomenologe mit Gestalten zu tun, und er versucht deren Rückseiten sichtbar zu machen. Diese Rückseiten sind nicht in der Tiefe verborgen, wie die Strukturen, sondern sie bilden Teile eines Ganzen, von dem wir immer nur bestimmte Seiten zu sehen bekommen.

Der Raum kann also sowohl einer strukturalen wie auch einer phänomenalen Analyse unterzogen werden. Beides scheint sich zu widersprechen, und es scheint so zu sein, daß man immer nur das eine tun kann, ohne gleichzeitig das andere mit berücksichtigen zu können. Um ein Phänomen wie die Stadt trotzdem gleichzeitig als eine Struktur und eine Struktur wie die Stadt gleichzeitig als Phänomen beschreiben zu können, bedarf es einer innovativen Methodik, die den direkt mathematisierbaren Raum zurückbindet an die menschliche Perspektive. Das tut Sandra Maria Geschke mit ihrem Buch „Doing Urban Space“ (2013), unbekümmert hinsichtlich der theoretischen Divergenzen in den Herangehensweisen an das Raum-‚Phänomen‘.

Sandra Maria Geschke stellt sich vor allem ein Ziel. Sie will den stadtplanerischen Fokus neu ausrichten: nicht mehr primär auf den Transport von Personen, Gütern und Energien, sondern auf eine „menschliche Raumschaffung“. (Vgl. Geschke 2013, S.307) Den zentralen Begriff für diese Raumschaffung bildet Geschke zufolge das „Wohnen“. Dieses Wohnen, als einen vielschichtigen Beheimatungsprozeß, stellt sie dem „Nachlassen der Raumbindungen“ (Geschke 2013, S.163) und der Schrumpfung der Mittel- und Kleinstädte mit ihren überalterten Bevölkerungsstrukturen (vgl. Geschke 2013, S.34ff.) entgegen. Damit richtet sie sich gegen einen wissenschaftlichen Mainstream – wie er auch in meinen Eingangsverweisen auf Friedrich Kittler zum Ausdruck kommt –, der sich die „Verantwortlichkeitsfrage für die Qualität des Wohnens“ nicht stellen will. (Vgl. Geschke 2013, S.163)

Die „Dezentralisierung menschlicher Bezugsorte“ (Geschke 2013, S.30) soll also rückgängig gemacht werden. Der Mensch soll wieder Mittelpunkt aller relationalen Koordinaten werden. Zwischen stadträumlichen ‚Dingen‘ und Menschen muß es zu einer „Liaison“ kommen, wie Geschke schreibt. (Vgl. Geschke 2013, S.116) Hierzu bedarf es einer Phänomenologie, die den Strukturalismus auf menschenfreundliche Weise integriert. In den folgenden Posts werde ich Geschkes Entwicklung und Umsetzung so einer phänomenalen Strukturanalyse vorstellen.

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