„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 5. November 2013

Sandra Maria Geschke, Doing Urban Space. Ganzheitliches Wohnen zwischen Raumbildung und Menschwerdung, Bielefeld 2013

(transcript, 357 S., 33,80 €)

1. Prolog
2. Methode
(A) Wildes Denken
(B) Kasuistik und Meditation
3. Anthropologie
4. Identitätsräume und Kommunikationsräume
5. Raumbindungsverluste
6. Gentrifizierung
7. Stadtplanung

Sandra Maria Geschke legt ihrer Arbeit zur Wiederbeheimatung der Menschen in ihren Städten eine Anthropologie zugrunde, nach der das „räumliche Denken“ „als kognitives Potenzial zur Grundausstattung eines jeden Individuums“ gehört. (Vgl. Geschke 2013, S.48) Das Zusammenspiel der Sinnesorgane bei der Raumwahrnehmung bezeichnet Geschke mit dem Neurobiologen Eric R. Kandel (2006) auch als „analytische Triumphe“, mit denen bis heute keine Maschine mithalten kann. (Vgl. ebenda)

Doch es sind nicht die Analyseleistungen unserer Sinnesorgane, die wir hier in den Blick zu bekommen haben. Vielmehr steht die räumliche Wahrnehmung für eine Syntheseleistung, für das Zusammenspiel verschiedener Sinnesorgane, die ja wiederum gerade als „kognitives Potenzial“ eine umfassende Bewußtseinsleistung bilden. Helmuth Plessner spricht hier von der Notwendigkeit einer Ästhesiologie, die die Einheit der Sinne thematisiert (vgl. meinen Post vom 14.07.2010) und nicht ihre isolierten Funktionen, die man bis zu spezifischen Synapsenverbindungen zurückzuverfolgen versucht. Solchen umfassenden Fragen wenden sich insbesondere philosophische Anthropologen zu, wie der gerade erwähnte Plessner oder Hermann Schmitz, mit dem sich Geschke ausführlicher auseinandersetzt. (Vgl. Geschke 2013, S.73ff.)

Insofern ist es ganz nett, wenn die Neurobiologie hier etwas beizutragen hat, etwa daß der Hippocampus von Londoner Taxifahrern besonders ausgeprägt ist, weil er für ihre räumliche Orientierung besonders intensiv genutzt wird. (Vg. Geschke 2013, S.49f.) Aber daß das Denken des Menschen räumlich strukturiert ist, bildet eine anthropologische Grundtatsache, über die wir bei Plessner, Arendt, Bollnow, Schmitz, auf die auch Geschke ausführlicher eingeht, oder, wie ich ergänzen möchte, Blumenberg, viel differenziertere und gründlichere Auskünfte erhalten können als bei den Neurobiologen. Vielleicht ändert sich das, wenn letztere aufhören, ausschließlich molekular zu denken, und wenn sie es in Betracht ziehen, auch etwas Phänomenologie zu betreiben.

Aber zurück zur Anthropologie, die Geschke ihrer Arbeit zugrundelegt. In der Hauptsache beschreibt sie den Menschen als ein raumschaffendes Wesen, das sich bzw. sein Selbst konstituiert, indem es eine Welt konstituiert. (Vgl. Geschke 2013, S.12) Raumschaffung ist ein Selbstbildungsprozeß, der gleichzeitig einen individuellen wie auch einen intergenerativen Charakter hat. (Vgl. ebenda). Insofern bietet gerade die Stadt als ein von Menschen geschaffener Raum eine Vielfalt an Bildungsangeboten: „Die Stadt als Lebensraum ... markiert einen geeigneten Ort der Entfaltung des Zusammenhangs von Mensch und Raum, gerade weil sie ein vielschichtiges Konglomerat an systemisch verzahnten Settings, d.h. den Ort mit der größtmöglichen Dichte an identifizierbaren kulturellen handlungsräumlichen Strukturierungsoptionen darstellt.“ (Geschke 2013, S.13f.)

Dabei findet eine interessante Verschiebung von Persönlichkeitsmerkmalen auf die städtische Dingwelt statt. Das Plessnersche Konzept des Menschen als exzentrische Positionalität läßt jede Authentizität zweifelhaft werden. Unmittelbarkeit gibt es für den Menschen immer nur als vermittelte Unmittelbarkeit. In diesen Zusammenhang gehört auch die prinzipielle Heimatlosigkeit des Menschen, wie sie Hannah Arendt konstatiert. (Vgl. Geschke 2013, S.15, 90ff.)

Der Mensch ist als raumschaffendes Wesen, wie Geschke in einer Fußnote anmerkt, allozentrisch koordiniert. (Vgl. Geschke 2013, S.51) Dieser Allozentrismus, diese relationale Fremdbezogenheit seines „Inter-esses“ (Geschke 2013, S.164), macht die Dinge zu Artikulationsformen seiner selbst: „Räumlichkeit bietet dem Leib eine Erfahrungs- und Artikulationsebene. Es ist ihm Entfaltungsmedium aufgrund seines Weitecharakters.“ (Geschke 2013, S.76)

Mit „Weitecharakter“ meint Geschke den mit der Dingwelt verbundenen atmosphärischen Gehalt. Wir fühlen uns in bestimmten Räumen beengt oder geöffnet und weit. (Vgl. Geschke 2013, S.76) Räume können uns das Gefühl der Fremdheit und der Vertrautheit vermitteln, sie können uns als ‚künstlich‘ oder als ‚authentisch‘ erscheinen. Damit wechselt der problematisch gewordene Begriff der Authentizität als ein Merkmal von Personen über zu den Dingen. Authentizität wird ein Merkmal von Räumen und Dingwelten. Sie wird zu einer stadträumlichen Inszenierung: „In der Postmoderne kann nicht mehr von direkter Authentizität gesprochen werden. Stattdessen wird Authentizität nun als inszeniert und damit als performativer Akt verstanden.“ (Geschke 2013, S.27, Fußnote 24)

Authentizität wird also zur Metapher. Wir können möglicherweise nicht mehr von der Seele des Menschen sprechen, aber durchaus von der „Seele der Stadt“ und von der „Authentizität eines Ortes“. (Vgl. Geschke 2013, S.204)

Geschke geht sogar noch weiter. Sie spricht von „Mensch-und-Ding-Vereinigungen“ als „Hybriden“. (Vgl. Geschke 2013, S.103) Wenn man dabei an die städtische Dingwelt in ihrer Künstlichkeit denkt, liegt der Gedanke an Cyborgs nahe. Der Begriff des Menschen als Hybriden radikalisiert noch einmal die von Plessner beschriebene vermittelte Unmittelbarkeit des Menschen.

Die Gegenstände der Stadt bilden das „Exterieur“ des menschlichen Inneren, seines „Interieurs“. (Vgl. Geschke 2013, S.100) Das erinnert an Leroi-Gourhans These, daß die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung immer mehr körperliche und geistige Fähigkeiten ‚exteriorisiert‘ hat, also auf Werkzeuge und Maschinen übertragen hat. (Vgl. meinen Post vom 24.03.2013) So hat er nun auch Persönlichkeitsmerkmale nicht nur an Masken und Rollen im gesellschaftlichen Leben geknüpft, sondern auch an Möbel und Immobilien.

In diesem Sinne des Sich-Einrichtens in private und öffentliche Räume spricht Geschke mit Bollnow von drei Ebenen der „Inkarnation“ bzw. des „Wohnens“: „... erstens in seinem eigenen Leib, zweitens in sein Haus und drittens in seine Umwelt im Ganzen.()“ (Geschke 2013, S.113) – Auf die Stadt bezogen bedeutet das, daß im Sinne eines ganzheitlichen Wohnens drei verschiedene Raumstrukturen zusammenwirken müssen: „Den Leib bewohnen ließe sich folglich mittels atmosphärisch gestimmter Weiteräume. Das Haus bzw. die Wohnung zu bewohnen, wird erst möglich über die Existenz einer dinghaft hergestellten Welt und die Bewohnbarkeit des öffentlichen (Außen-)Raumes ist an die kommunikative Errichtung so genannter Diskurs- respektive Erscheinungsräume gebunden.“ (Geschke 2013, S.159)

Aus der anthropologischen Struktur eines raumschaffenden Wesens lassen sich also drei verschiedene, aufeinander bezogene Formen des Raumerlebens ableiten: die mit dem Leib verbundene Atmosphäre (Stimmungen, Befindlichkeiten), der mit der Wohnung, dem Haus und der Straße verbundene Identitäts- bzw. Heimatraum – immer auf der Folie der menschlichen Geworfenheit/Heimatlosigkeit (Vgl. Geschke 2013, S.2013) – und der öffentliche Erscheinungsraum, wie z.B. der Markplatz oder die Kaffeehäuser, Orte also, an denen kommuniziert wird und Politik stattfindet. Dabei bildet die atmosphärische Empfänglichkeit, die Affizierbarkeit des menschlichen Leibes eine anthroplogische Grundtatsache, von der her heimatlicher Identitätsraum und öffentlicher Kommunikationsraum erst möglich werden: „Somit kann festgehalten werden, dass der atmosphärisch gestimmte Weiteraum, in dem der Aspekt der Affizierung des und durch den Menschen in das Zentrum rückt, nicht nur einer der drei durch den Menschen herstellbaren Raumtypen, sondern vielmehr zugleich Voraussetzung und Begleitprodukt der beiden anderen Raumtypen ist.“ (Geschke 2013, S.260)

Auf allen diesen Ebenen bewegt sich der Mensch, der sich über das Raumschaffen bildet: „Mit dem Betrachtungsfeld des (städtischen) Raumes und seiner konstitutiven Verbindung zum Menschen lässt sich prototypisch der Prozess der Seinswerdung eines Individuums in seiner intergenerativen Charakteristik herausarbeiten und deutlich machen, dass dieser als Vorgang per se räumlich geprägt und damit in wechselseitiger Abhängigkeit von Mensch und Umwelt determiniert ist.“ (Geschke 2013, S.12)

Raumbildung ist also Selbstbildung. Insofern ist Geschkes Arbeit über „Ganzheitliches Wohnen“ zugleich ein Buch über Erziehung und Bildung mittels situativer Arrangements: „Da also Räume in ihrer Verwobenheit mit dem Menschen das Menschsein prägen und mitbestimmen, können sie als Erziehungsaktanten identifiziert werden, die im Sinne Herbarts auf die Entfaltung der Potenziale des Menschen hin ausgerichtet und somit der Ausbildung und Festigung einer ‚Vielseitigkeit des Interesses‘() zuträglich sein sollten. ... So spricht die energetisch aufgeladene Dingwelt mit dem Betrachter über ihre eingeschriebenen Erlebnisse als materialisierte Erfahrung von Selbst und Welt.“ (Geschke 2013, S.304)

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