„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 7. November 2013

Sandra Maria Geschke, Doing Urban Space. Ganzheitliches Wohnen zwischen Raumbildung und Menschwerdung, Bielefeld 2013

(transcript, 357 S., 33,80 €)

1. Prolog
2. Methode
(A) Wildes Denken
(B) Kasuistik
3. Anthropologie
4. Identitätsräume und Kommunikationsräume
5. Raumbindungsverluste
6. Gentrifizierung
7. Stadtplanung

Die Globalisierung geht mit fundamentalen Raumbindungsverlusten einher, die mit den damit verbundenen „Wirkungsraumverlusten“ zu einer Entmündigung des Menschen beitragen, der sein Leben zu führen versucht (vgl. meinen Post vom 29.10.2010): „Zeitgenössische Gesellschaften haben zunehmend damit umzugehen, dass ihnen klassische urbane Raumbindungen verloren gehen. So gehören eine zunehmende Abwanderungsrate und damit das Phänomen der ‚schrumpfenden Städte‘, Auswirkungen einer zunehmenden Globalisierung und damit verbundene Fragen von Raumzugehörigkeiten angesichts vielfach zu verzeichnender Migrationsbewegungen, wie auch verstärkt zu beobachtende Wirkungsraumverluste an homogene Gruppen zu den sichtbaren Phänomenen.“ (Geschke 2013, S.19)

Das Empfinden der eigenen Wirksamkeit ist ein wichtiges Moment des heimatlichen Identitätsraumes, das zur Verwurzelung des Stadtbewohners beiträgt: „Lokale Entwurzelungen lassen den Raum vor der eigenen Haustür zunehmend als fremd bzw. bedrängend erscheinen und die eigene Rolle wird zunehmend als sinnentleert und überflüssig wahrgenommen.“ (Geschke 2013, S.163; vgl. auch S.129)

Das Fehlen dieses „Wirksamkeitsgefühls“ (Geschke 2013, S.264) führt zu einer „Dezentralisierung menschlicher Bezugsorte“ und zu einer „Uniformisierung städtischer Lebenswelten“. (Vgl. Geschke 2013, S.30) Das Phänomen der schrumpfenden Städte bezieht sich vor allem auf Klein- und Mittelstädte und in Deutschland vor allem auf die ostdeutschen Bundesländer. Aufgrund der Abwanderung der jüngeren Generationen führt es zu einer Überalterung der Bevölkerungsstruktur. (Vgl. Geschke 2013, S.34ff.)

Was die im ersten Zitat angesprochene „Migrantenbewegungen“ betrifft, fehlt mir eine Differenzierung zur narrativen Figur des Nomaden, mit der Geschke den öffentlichen Diskurs- und Erscheinungsraum thematisiert. Von den Migranten ist nur an einer Stelle etwas ausführlicher die Rede. Dort spricht Geschke von kulturellen „Gruppenbindungen“ in isolierten Stadtteilen, die sich weniger über diese Stadtteile als vielmehr über die gemeinsame Herkunft definieren. (Vgl. Geschke 2013, S.41f.) Eine Abgrenzung des Migrantentums vom Nomadentum findet nicht statt.

Eine solche Abgrenzung müßte den Nomaden als „Durchreisenden“ kennzeichnen, der im Unterschied zum Migranten nicht vorhat, für längere Zeit zu bleiben, was bekanntlich bei Migranten, entgegen ihrer eigenen Lebensplanung, dazu führt, daß sie sich meistens über mehrere Generationen hinweg eben doch in ihrem Gastland beheimaten.

Es fehlt auch eine geschichtliche und eine anthropologische Differenzierung des Nomadentums. Menschheitsgeschichtlich ist die nomadische Lebensweise ursprünglicher als die Seßhaftigkeit in Dörfern und Städten. Dennoch kann von diesem ursprünglichen Nomadentum nicht behauptet werden, es wäre wurzellos oder heimatlos. Die Heimat besteht hier vielmehr in den Wegen, die in jahreszeitlichen Zyklen abgewandert werden, und natürlich in der Landschaft, wie sie in den Songlines der Aborigines besungen wird.

Der postmoderne ‚Nomade‘ hingegen zieht ziellos durch die globalisierte Welt, als Straßenkünstler oder als Arbeitssuchender. Insofern verkörpert er die „Leitfigur einer Gesellschaft ..., in der Mobilität als einer der höchsten Werte gehandelt wird und das Mobilsein zu einer sozialen Norm geworden ist ...“, wie Geschke Markus Schroer (2006) zitiert. (Vgl. Geschke 2013, S.226f.)

Die Globalisierung dezentralisiert die Welt, weil sie die Menschen entwurzelt. Die Städte sind zu Knotenpunkten weltweiter Migrationsströme geworden, zu „Nicht-Orten“ (Marc Augé) und „Orten ohne Selbst“, durchstreift von Menschen „ohne Ort“ (Peter Sloterdijk; vgl. Geschke 2013, S.31f.). Die Menschen schreiben sich nicht mehr in die Dingwelten ihrer näheren und weiteren Stadtumgebung ein. Sie erkennen sich in den Fassaden und Schaufenstern der Straßen, die sie flexibel, mobil und überbeschäftigt durcheilen, nicht mehr wieder. An die Stelle einer dauerhaften Bindung treten „konsumierbare Designs und Konsumobjekte“, eine „konsumptorische() Bedürfnisbefriedigung“ mit ihrer vorübergehenden, flüchtigen „konsum- und güteraneignungsbezogene(n)“ Sinnstiftung. (Vgl. Geschke 2013, S.33, 42f.) Das mit der Dingwelt verbundene Versprechen von Dauerhaftigkeit verwirklicht sich paradox über einen immer schnelleren Verbrauch und dem Anwachsen eines dafür umso dauerhafteren Müll- und Giftberges.

Die Stadt als Bestandteil einer globalen Infrastruktur ist also Ziel- und Durchgangsstation zugleich, für Migranten das eine, für Nomaden das andere. Ihre Straßen dienen „lediglich dem Zwecke des Transportes“ von Gütern und Personen und „können keine identitätsstiftenden Bindungen hervorrufen.“ (Vgl. Geschke 2013, S.201) Um Straßen wieder als Lebensraum zurückzuerobern, bedarf es einer Rückverwandlung der Stadtteile in „Dörfer“, wie Geschke mit Ruth Beckermann (2001) festhält: „... damit man das aushält“, nämlich ständig „unkonzentriert zu sein, ständig assoziativ zu sein, sich permanent entäußern zu können, ständig aufmerksam zu sein, schaffen sich die Leute in allen Städten der Welt wahrscheinlich Dörfer. Und wer halt Pech hat, gehört zu keinem Dorf in der Stadt. Und wer halt Glück hat, der gehört doch zu einem Dorf.“ (Vgl. Geschke 2013, S.222)

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