„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 27. Dezember 2013

„Maßnehmen/Maßgeben“. Nebulosa: Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität 04/2013, hrsg.v. Eva Holling, Matthias Naumann, Frank Schlöffel, Berlin 2013

Neofelis Verlag, Jahresabonnement 22,--, Einzelheft 14,--

(Eva Holling/Matthias Naumann/Frank Schlöffel, Homo Meter: Über Maße, S.7-17 / Hannelore Bublitz, Vermessung und Modi der Sichtbarmachung des Subjekts in Medien-/Datenlandschaften, S.21-32 / Frank Engster, Maßgeblichkeit für: sich selbst. Das Maß bei Hegel und Marx, S.33-48 / Bojana Kunst, Das zeitliche Maß des Projekts, S.49-63 / Jörg Thums, Manifest für eine Apperzeption in der Zerstreuung, S.66-77 / Christian Sternad, Das Maßlose des Werkes. Martin Heidegger und Maurice Blanchot über den Ursprung des Kunstwerkes, S.81-93 / Fanti Baum, All this Useless Beauty oder das Maß durchqueren, S.95-109 / Mirus Fitzner, Maßnehmen als rassistische Praxis. Warum das Konzept ‚Ethno-Marketing‘ auf rassistischen Grundannahmen basiert, S.110-124 // Kommentare zu Nebulosa 03/2013: Peter J. Bräunlein, Gelehrte Geisterseher. Anleitungen für den gepflegten Umgang mit Gespenstern, S.127-139 / Gerald Siegmund, Gespenster-Ethik, oder warum Gespenster das Theater lieben, S.140-150 / Julian Blunk, Die Gespenster bleiben nebulös, S.151-164 / Malgorzata Sugiera, Gespenst und Zombie als Denkfiguren der Gegenwart, S.165-177)

In diesem und den folgenden Posts habe ich das Vergnügen, eine Ausgabe von „Nebulosa“ (04/2013), einer seit 2012 zweimal im Jahr erscheinenden „Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität“, zu besprechen. Ich freue mich darüber – und ich bewundere die Herausgeber Eva Holling, Matthias Naumann und Frank Schlöffel für ihren Mut –, daß es in Zeiten zunehmender, medientechnologisch bedingter Zerstreuung noch möglich ist, ein intellektuell so hochwertiges, an die Lesebereitschaft des Publikums hohe Ansprüche stellendes Produkt auf den Markt zu bringen.

Der Titel deutet ein phänomenologisches Konzept der Zeitschrift an, das sich mit „Sichtbarkeit“ und „Sozialität“ an den Maßstäben menschlicher Sinneswahrnehmung orientiert, was auch durch das Thema der ersten Nummer, „Wahrnehmung und Erscheinen“ (1/2012), noch einmal unterstrichen wird. Mit dem nebulösen Haupttitel wenden die Herausgeber der Zeitschrift die menschliche Sinneswahrnehmung zugleich ins Ironische, was die mit ihr verbundenen subjektiven Gewißheitsansprüche kritisch hinterfragt. Die paradoxe Kombination aus nebulösen Sichtbarkeiten läßt vermuten, daß die Herausgeber der Wunsch antreibt, Naivität und Reflexion auf produktive Weise zu verbinden. Das zeigt sich noch einmal besonders deutlich in dem mir zur Besprechung vorliegenden Exemplar zum Thema „Maßnehmen/Maßgeben“, dessen Beiträge Werte und Maße in ihrer doppelten Funktion als inter-‚subjektive‘ und empirisch-objektive Verhältnisbestimmungen von Mensch und Welt hinterfragen.

Es ist aber nicht nur der Mut der Herausgeber, für eine solche Zeitschrift auf ein lesekundiges, fachlich ungebundenes und dennoch urteilfähiges Publikum zu vertrauen, das mir Respekt einflößt. Zu einer solchen Zeitschrift gehören auch Autoren, deren Intellekt der Thematik gewachsen ist. Was die Autoren betrifft, zeigt die mir vorliegende Ausgabe mit ihren zwölf durchweg hochwertigen Beiträgen, daß es an diesen „Autor_innen“ – um mich der ‚nebulösen‘ Schreibweise zu bedienen – nicht mangelt. Es wäre der Zeitschrift zu wünschen, daß sie auch ein entsprechendes Publikum findet.

Allerdings mischt sich in das eingangs erwähnte Vergnügen, diese Zeitschrift besprechen zu dürfen, eine gewisse Beunruhigung. Im Forumsteil der aktuellen Ausgabe präsentieren die Herausgeber vier Kommentare zur vorangegangenen Nummer zum Thema „Gespenster“ (3/2013). (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.127-177) Eigentlich aber handelt es sich dabei weniger um kurze Leserkommentare zu einzelnen Beiträgen dieser Ausgabe als vielmehr um ausführliche, elf- bis vierzehnseitige Besprechungen, auf wiederum einem Niveau, an dem ich mich nun in meinen folgenden Besprechungen messen lassen muß. Immerhin handelt es sich bei diesen ‚Kommentaren‘ um summarische Besprechungen, während ich mich hier auf die einzelnen Beiträge der Autoren konzentrieren werde. Das stellt doch ein gewisses Alleinstellungsmerkmal dar und mindert die einschüchternde Konkurrenz jener Kommentare.

Wie die Herausgeber in ihrer Einleitung zu „Maßnehmen/Maßgeben“ festhalten, geht es beim Vermessen von Naturerscheinungen und Weltphänomenen nicht nur um „Messdaten“ und „Datenkurven“ im streng objektiven Sinne, sondern auch um „soziale() Kontrolle“ und um „Selbsttechnologien“ (Vgl. Nebulosa 04/2013, S.17), eine Thematik, deren sich auch Peter Sloterdijk mit seinen Schriften zur „Anthropotechnik“ und zum „Menschenpark“ ausführlich widmet. Wo sich Sloterdijks Begrifflichkeit aber bewußt im Nebulösen bewegt und sich einer humanen Positionierung verweigert, bringen die Herausgeber von Nebulosa die Problematik auf den Punkt: Am Beispiel der ‚Justierung‘ bzw. ‚Eichung‘ von Strafgesetzen zeigen die Herausgeber, wie über Gerichtsverfahren auf der Suche nach neuen Bewertungsverfahren und Strafmaßen, wie in den Nürnberger Prozessen zu den nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen (vgl. Nebulosa 4/2013, S.13ff.), und bei der ‚Erhaltung‘ bzw. ‚Bewahrung‘ des Rechts, etwa anläßlich einer Demonstration gegen Nazis in Dresden (vgl. Nebulosa 4/2013, S.15ff.), neues Recht gesetzt oder bestehendes Recht verändert wird: „Indem behauptet wird, Recht zu erhalten, wird Recht gesetzt bzw. eine bisher als dem geltenden Recht angemessene politische Handlung der Demonstration gegen Nazis außerhalb des Rechts gesetzt.“ (Nebulosa 2013, S.16)

Alle Beiträge der aktuellen Ausgabe stellen letztlich mit dieser „Frage nach dem Angemessenen“ (Nebulosa 4/2013, S.14) den Menschen und sein Weltverhältnis in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Sie fügen sich nicht der verbreiteten intellektuellen Mode, diesen Menschen schon zu seinen Lebzeiten totzusagen und zu verabschieden. Auch für diesen Mut, sich weiterhin des eigenen Verstandes zu bedienen, mein Respekt.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen