„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 28. Dezember 2013

„Maßnehmen/Maßgeben“. Nebulosa: Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität 04/2013, hrsg.v. Eva Holling, Matthias Naumann, Frank Schlöffel, Berlin 2013

Neofelis Verlag, Jahresabonnement 22,--, Einzelheft 14,--

(Eva Holling/Matthias Naumann/Frank Schlöffel, Homo Meter: Über Maße, S.7-17 / Hannelore Bublitz, Vermessung und Modi der Sichtbarmachung des Subjekts in Medien-/Datenlandschaften, S.21-32 / Frank Engster, Maßgeblichkeit für: sich selbst. Das Maß bei Hegel und Marx, S.33-48 / Bojana Kunst, Das zeitliche Maß des Projekts, S.49-63 / Jörg Thums, Manifest für eine Apperzeption in der Zerstreuung, S.66-77 / Christian Sternad, Das Maßlose des Werkes. Martin Heidegger und Maurice Blanchot über den Ursprung des Kunstwerkes, S.81-93 / Fanti Baum, All this Useless Beauty oder das Maß durchqueren, S.95-109 / Mirus Fitzner, Maßnehmen als rassistische Praxis. Warum das Konzept ‚Ethno-Marketing‘ auf rassistischen Grundannahmen basiert, S.110-124 // Kommentare zu Nebulosa 03/2013: Peter J. Bräunlein, Gelehrte Geisterseher. Anleitungen für den gepflegten Umgang mit Gespenstern, S.127-139 / Gerald Siegmund, Gespenster-Ethik, oder warum Gespenster das Theater lieben, S.140-150 / Julian Blunk, Die Gespenster bleiben nebulös, S.151-164 / Malgorzata Sugiera, Gespenst und Zombie als Denkfiguren der Gegenwart, S.165-177)

Hannelore Bublitz beschreibt in ihrem Beitrag „Vermessung und Modi der Sichtbarmachung des Subjekts in Medien-/Datenlandschaften“ (Nebulosa 4/2013, S.21-32), wie Meßdaten und statistische Beobachtungsmethoden zunehmend an die Stelle einer sich diskursiv verständigenden Öffentlichkeit treten und mittlerweile auch das private Leben umfassen. „(V)erteilte() Strukturen, Ranking- und Profilierungsverfahren“ und Dauerbeobachtung ersetzen die „Selbstführung“ des Subjekts. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.32) „Anschlussfähigkeit“ und „permanente Selbstoptimierung“ (vgl. ebenda) unterwerfen auch noch die privatesten Lebensbereiche der Marktlogik. (Zum unternehmerischen Selbst vgl. auch meine Posts vom 17.08., 18.08. und vom 20.08.2013)

Privatheit und Öffentlichkeit bilden Bublitz zufolge eine zunehmend antiquierte Opposition, wie sie an die Differenzierungen zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft bei Helmuth Plessner erinnert. (Vgl. meine Posts vom 14.11. bis 17.11.2010; vgl. auch meinen Post vom 25.08.2013) Die beiden Lebensbereiche hatten sich ursprünglich, so Bublitz, „(i)m Zusammenhang mit dem sich ausbreitenden Waren- und Nachrichtenverkehr“ getrennt. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.21f., Fußnote 1) Die auf diese Weise sich konstituierende „bürgerliche Öffentlichkeit“ versammelte ein „obrigkeits- und kulturkritisches, dann überwiegend kulturkonsumierendes – Publikum“. (Vgl. ebenda)

Diese von einer Privatwelt noch unterscheidbare bürgerliche Öffentlichkeit entspricht der von Plessner beschriebenen gesellschaftlichen ‚Bühne‘, auf der die aus der intimen Geborgenheit der Gemeinschaft entlassenen Individuen ihre Maskenspiele aufführen, indem sie vorgeben, etwas zu sein, und sich damit einen Spielraum schaffen, etwas zu werden. Auch Bublitz verwendet den Begriff der „Repräsentation“, der dem der Plessnerschen Maske entspricht, insofern die sich in der bürgerlichen Öffentlichkeit repräsentierenden Individuen nicht ‚darstellen‘ bzw. ‚vorstellen‘, sondern ‚erzeugen‘: „Repräsentationen sind also nicht einfache Reflexionen der Wirklichkeit, sie bringen nicht lediglich zum Ausdruck, was immer schon da war, sondern sie erzeugen, bringen durch die Bedingungen des Blicks und des Mediums hervor, was sich sonst nicht einmal denken lässt. Repräsentation erfolgt performativ, sie bewirkt, was sie darstellt und inszeniert, als Realität.“ (Nebulosa 4/2013, S.27, Fußnote 9)

Auch wenn sich Bublitz davon distanziert, daß in den Repräsentationen etwas „zum Ausdruck“ gebracht wird, so doch nur in dem Sinne eines immer-schon-da-Gewesenen. Tatsächlich aber haben wir es hier mit Expressivität im Plessnerschen Sinne zu tun: mit einer Expressivität, die „bewirkt, was sie darstellt und inszeniert“. (Vgl. meine Posts vom 26.10. und vom 29.10.2010)

Mit der Auflösung der getrennten Lebensbereiche und dem Eindringen der, wie Habermas es nennen würde, ökonomischen Systemimperative in die Intimität der Privatwelt verlieren die Individuen ihren differenzstiftenden Rückhalt. Die Masken sind nicht länger nur Masken, sondern wir reproduzieren und vervielfältigen uns in ihnen: „Das Selbst, das sich medial sichtbar präsentiert, steht hoch im Kurs; angeschlossen an voyeuristische Apparate der Sichtbarmachung des Subjekts in Daten- und Medienlandschaften – die Massenmedien – und statistische Mess- und Auswertungsverfahren zirkuliert es, performativ vervielfältigt, als Reproduktion seines Selbst.“ (Nebulosa 4/2013, S.S.24)

Wir haben es also nicht mehr mit einem freien, Identitäten spielerisch erprobenden Maskenspiel zu tun, sondern mit Wiedergängern, Doppelgängern und Phantomen, neudeutsch ‚Avataren‘, wie sie Günther Anders und Friedrich Kittler beschrieben haben. (Vgl. meine Posts vom 23.01.2011, 12.04.2012 und 17.11.2013)

Die neue, der „Sichtbarkeit des Subjekts“ in den Medien- und Datenlandschaften entsprechende Anthropologie bietet also keinen Raum mehr für eine exzentrische Positionalität im Plessnerschen Sinne, in dem Subjekte sich selbst und der Welt als einem Anderen gegenüberstehen. Vielmehr haben wir es nur noch mit flachen Spiegelwelten zu tun, mit unendlichen Spiegelungen unserer selbst, in denen wir ganz in unserer Sichtbarkeit und Austauschbarkeit aufgehen: „Das Subjekt befindet sich auf der Ebene medial beobachtbarer Praktiken in einer andauernden Experimentierphase; die verschiedenen Versionen des eigenen Selbst werden medial transportiert und können flexibel ausgetauscht werden. ... Dabei entwickelt sich, neben einer Art ‚Objekt‘-Disposition der ‚being-looked-at-ness‘() ein ästhetischer Voyeurismus, der das Subjekt gewissermaßen als ‚sich zerstreuendes Subjekt‘ organisiert und es weniger in der reflexiven Ich-Kontrolle als vielmehr in einer visuellen Haltung trainiert.“ (Nebulosa 4/2013, S.25)

Wir haben es nicht mehr mit einer Anthropologie der exzentrischen Positionalität, sondern mit einer Anthropologie der durchgehenden Dis-Positionalität zu tun, in der die Menschen sich über ihre Flexibilität definieren, sowohl hinsichtlich ihrer medialen Austauschbarkeit wie auch hinsichtlich ihres ökonomischen Gebrauchswerts. Wie Bublitz in ihrem Schlußwort festhält, unterwerfen sich die Subjekte einer „Art permanente(m) ökonomische(m) Tribunal“. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.32)

In der Sachlichkeit und Stringenz ihrer Darstellung beschreibt Hannelore Bublitz die medientechnologischen Entwicklungen auf dem Niveau von Günther Anders und Friedrich Kittler. Es ist an uns, ob wir diese Entwicklungen mit Anders bedauern oder mit Kittler euphorisch begrüßen oder ob wir mit Plessner daran festhalten, daß selbst die umfassende technologische Disponibilität menschlicher Selbstbestimmung noch einmal auf unsere exzentrische Positionalität zurückzuführen ist und insofern keineswegs das letzte Wort in dieser Angelegenheit bildet.

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