„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 20. Dezember 2013

Thomas Nagel, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 2013

1. These
2. Methode
3. Sprache und Logik
4. Letztbegründungsansprüche
5. Mensch/Welt und Teil/Ganzes
6. Doppelaspektivität
7. Werterealismus
8. Sinn von Sinn

Ich hatte schon in meinem Post vom 17.12.2013 darauf hingewiesen, daß Phänomenologen es üblicherweise vermeiden, für gegebene Phänomene nach Erklärungen und Begründungszusammenhängen zu suchen. Dennoch läßt sich das bei einem bestimmten Bereich von Phänomenen nicht vermeiden. Dabei handelt es sich um den weiten Bereich menschlicher Handlungen, mit denen sich u.a. die Geschichtswissenschaft befaßt. Man kann geschichtliche Phänomene, wie z.B. Epochen und Kulturen, gar nicht beschreiben, ohne ihre Genese zu berücksichtigen.

Auch was Werte betrifft, haben wir es mit geschichtlichen Phänomenen zu tun, deren Entstehungsgeschichte einiges zu ihrem Verständnis und ihrer Geltung beiträgt. (Vgl. meinen Post vom 12.05.2012) ‚Werte‘ sind Sinnphänomene und haben wie diese die Struktur eines „Sinns von Sinn“; d.h. sie stehen niemals für sich allein, sondern verweisen auf einen Kontext und auf konkrete Situationen. Sie sind relativ im Bezug auf ihre Prozeßhaftigkeit, und sie sind motivierend als Momente eines Ganzen, so daß die willkürliche Mißachtung eines einzelnen Wertes immer auch das Ganze der Werte betrifft.

Nagel setzt das Werteempfinden als Urteilsform in Bezug auf eine vom Subjekt unabhängige Wahrheit. Für ihn gelten Werte objektiv, unabhängig von der subjektiven Wahrnehmung, weshalb er vom „Wertrealismus“ spricht (vgl. Nagel 2103, S.141f.), dem er subjektive Werteauffassungen bzw. „expressivistische Formen des Subjektivismus“ (Nagel 2013, S.142) gegenüberstellt: „Die subjektivistische Position, die ich dem Realismus gegenüberstellen will, besagt einfach ausgedrückt, dass die evaluative und moralische Wahrheit von unseren motivationalen Bereitschaften und Reaktionen abhängt, wohingegen die realistische Position besagt, dass unsere Reaktionen versuchen, die evaluative Wahrheit wiederzugeben, und in Bezug auf diese richtig oder unrichtig sein können.“ (Nagel 2013, S.142)

Teilweise erinnert Nagels Haltung wieder an phänomenologische Grundhaltungen, wenn er Werten scheinbar einen Phänomenstatus zuspricht: „Die allgemeine moralische Wahrheit“, so Nagel, „ist nichts als sie selbst.“ (Nagel 2013, S.147)

Genau das kann man von jedem Phänomen sagen, dem man sich meditierend zuwendet. Tatsächlich geht es Nagel aber mit dieser Feststellung um eine letzte Begründungsinstanz, der sich der einzelne Mensch mit seinen subjektiven Wahrnehmungen unterwerfen soll: „Durch ihr Begreifen von Werten und Gründen, deren Existenz eine Grundform der Wahrheit ist, können die Menschen zum Handeln motiviert sein, und die Erklärung des Handelns durch solche Motive ist eine Grundform der Erklärung, die nicht auf irgendeine andere Form, sei sie psychologisch oder physisch zurückführbar ist.“ (Nagel 2013, 164)

Werte sind also nicht Teil eines Mensch-Welt-Verhältnisses, in dem sich der Mensch vor sich selbst und vor anderen wie er selbst verständlich zu machen versucht, sondern sie sind diesem Mensch-Welt-Verhältnis gegenüber transzendent. Nicht unsere Motive erklären unsere Werte, sondern die Werte begründen – „unabhängig von den Absichten irgendeines Wesens“ (Nagel 2013, S.101) – unsere Motive.

Dabei unterscheidet Nagel nicht zwischen einer materialen Werteethik und formalen Moralprinzipien, wie sie Kant mit seinen beiden kategorischen Imperativen zusammenfassend auf den Begriff gebracht hat. Formale Moralprinzipien kann man sich tatsächlich als weitgehend subjektunabhängig vorstellen. Man sollte dabei allerdings nicht vergessen, daß Kant seine Imperative an einen subjektiven guten Willen zurückgebunden hat. Die Umsetzung des Imperativs bedarf einer entsprechenden subjektiven Motivation.

Nagel geht aber nicht von formalen Prinzipien aus. Er beansprucht mit seinem Wertrealismus tatsächlich eine materiale Werteethik, die nur scheinbar abhängig, tatsächlich aber als eine „Grundform der Wahrheit“ (Nagel 2013, S.164) mit ihren rationalen Begründungszusammenhängen unabhängig von unseren subjektiven Bedürfnissen Bestand hat. Dabei reicht das Fundament dieser materialen Werteethik durchaus bis in biologische Prozesse hinein: „Wir beginnen mit dem Urteil, dass Lust und Schmerz an sich gut und schlecht sind, gehen zusammen mit anderen Werten über zu einer systematischeren und stärker ausgearbeiteten Erkenntnis von Handlungsgründen und von Prinzipien, welche die Verbindung und Interaktion von Gründen regeln, und kommen letzten Endes zu Moralprinzipien.“ (Nagel 2013, S.160)

Aus den biologischen Notwendigkeiten von Lust und Schmerz als Grundlagen unseres Wertempfindens lassen sich also alle anderen Werte – „deren Existenz eine Grundform der Wahrheit ist“ (Nagel 2013, S.164) – ableiten. Eine ähnliche Argumentation haben wir schon bei Damasio kennengelernt, der alle Werte aus den biologischen Notwendigkeiten des Überlebens ableitet. (Vgl. meinen Post vom 18.08.2012)

Was hier nicht in den Blick kommt, ist die expressive Grundstruktur des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses: der Wunsch, uns vor uns selbst und vor anderen wie uns selbst verständlich zu machen. Werte, das ist mein Gegenargument zu Nagel und Damasio, partizipieren eben doch von Anfang an an dieser anthropologischen Notwendigkeit. Sie sind Teil des Sinn-von-Sinn-Prozesses. Darauf möchte ich in meinem letzten Post zu Nagels „Geist und Kosmos“ noch einmal eingehen.

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