„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 15. Januar 2014

Douwe Draaisma, Das Buch des Vergessens. Warum Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern, Köln 2012

1. Formen des Vergessens
2. Methode I
3. Methode II
4. Gestaltwahrnehmung und die Gestalt des Gedächtnisses
5. Autobiographisches Gedächtnis
6. Zwei Gehirne und die Einheit des Bewußtseins
7. Zwanghaftes Erinnern
8. Vergessene Träume

Ich hatte schon im Zuge meiner Auseinandersetzung mit Jan Assmann (Post vom 04.02.2011) und Harald Welzer (Post vom 20.03.2011) darauf hingewiesen, daß der Plessnersche Begriff der exzentrischen Positionalität nicht nur auf die Außenwelt, sondern auch auf die Innenwelt angewandt werden kann. Dabei setzte ich die Innenwelt mit dem Gedächtnis gleich, während ich die Außenwelt mit der sinnlichen Wahrnehmung gleichsetzte, also mit den nach außen gerichteten Sinnesorganen.

Dabei ist aber nicht nur die Formulierung ‚nach außen gerichtet‘ problematisch, insofern wir es letztlich bei allen Sinnesorganen mit einer Doppelaspektivität zu tun haben, weil mit ihnen innere Empfindungen und Befindlichkeiten einhergehen. Darüber hinaus funktionieren auch diese Wahrnehmungen, deren Hauptmerkmal ihre Gegenwärtigkeit, ihre Präsenz ist, ebenfalls nur auf der Grundlage eines ‚primären‘ Gedächtnisses: „Das primäre Gedächtnis gehört eigentlich noch zum Bewusstsein: Es enthält Beobachtungen und Wahrnehmungen, die das Bewusstsein noch nicht verlassen haben, es ist das Gedächtnis, das zu unserem Bewusstsein das beiträgt, was wir momentan erleben.“ (Draaisma 2012, S.97)

Psychologen ordnen deshalb den Sinnesorganen „sensorische Register“ zu – „früher auch Ultra-Kurzzeitregister genannt“ (Draaisma 2012, S.10) –, die eine unterschiedliche Dauer und Aufnahmekapazität haben. Der Gesichtssinn scheint das umfangreichste Register zu haben. So ist es bislang z.B. noch nicht gelungen, die Grenzen des visuellen Gedächtnisses zu bestimmen, es sei denn man nimmt die Langeweile der Versuchspersonen als eine solche Grenze, die irgendwann einfach keine Lust mehr haben, sich tagelang zehntausende von Bildern anzusehen. (Vgl. Draaisma 2012, S.278) Die enorme Kapazität des visuellen Registers wird verständlich, wenn man berücksichtigt, daß „visuelle Szenen“ immer „ungeheuer viel Information“ enthalten, die sich kaum ohne Verlust in die Wortsprache übertragen lassen. (Vgl. Draaisma 2012, S.79)

Dennoch haben wir es auch beim „visuelle(n) sensorische(n) Register“ (Draaisma 2012, S.10) mit einem Ultrakurzzeitgedächtnis zu tun, was bedeutet, daß schon wenige Sekunden nach Betrachten einer Reihe von Bildern die Erinnerung verblaßt: „Dieses schnelle Löschen geschieht auch in den anderen sensorischen Registern, obwohl das Gedächtnis für Geräusche (die ‚Echobox‘) die Reize etwas länger festhält, zwei bis vier Sekunden. Das Festhalten von Reizen ist für eine ungestörte Verarbeitung von Sinnesinformationen notwendig.“ (Draaisma 2012, S.11) – Diese Beschreibung erinnert an Damasios Konzept des Kernselbsts, das im Drei-Sekunden-Rhythmus pulsiert. Das Bewußtsein setzt sich Damasio zufolge aus diesen Pulsen der Aufmerksamkeit zusammen. (Vgl. meinen Post vom 21.07.2011)

Das primäre Gedächtnis ist also ein Gedächtnis der Präsenz. Es ermöglicht die Dauer einer Gegenwart, die Draaisma mit dem eigentlichen Bewußtsein gleichsetzt, während das, was man üblicherweise als ‚Gedächtnis‘ bezeichnet, im sekundären Gedächtnis besteht: „Nur das sekundäre Gedächtnis ist für (William) James wirklich ein Gedächtnis im strengen Sinn: Was daraus zum Vorschein kommt, sind Erinnerungen, die offensichtlich außerhalb unseres Bewusstseins des Augenblicks gespeichert bleiben.“ (Draaisma 2012, S.97)

Draaismas Formulierung, daß die Erinnerungen „außerhalb unseres Bewusstseins des Augenblicks“ gespeichert werden, macht noch einmal die exzentrische Position des Bewußtseins dem Gedächtnis gegenüber deutlich. Das Gedächtnis bildet wie die Außenwelt eine eigene ‚Welt‘, die für sich steht und unserer Kontrolle nicht unterworfen ist. Dabei ist natürlich unbestreitbar, daß das Gedächtnis zugleich einen Teil des Bewußtseins bildet, anders als die Außenwelt. Es bildet als eigenständige ‚Welt‘ zugleich ein Unter-Bewußtsein. (Zur Differenz zwischen Bewußtem, Un-Bewußtem und Unter-Bewußtem vgl. meinen Post vom 20.04.2012)

Neben der weitgehenden Eigenständigkeit unterbewußter Gedächtnisfunktionen gibt es weitere Parallelen zwischen der Gestaltwahrnehmung und dem Erleben von Erinnerungen. Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen dem Wiedererkennen von Gestalten und dem Verstehen von Sinn finden sich in Draaismas Beschreibungen bestimmter pathologischer Fälle von Gesichtsblindheit (Prosopagnosie) aus dem zweiten Weltkrieg. Von einem Soldaten mit einem durch eine Granate verletzten Gehirn heißt es z.B.: „Gegenstände, die ihm schon vor der Verletzung vertraut waren, erkannte er, neue Gegenstände konnte er sich nicht einprägen. Auch die Integration von Einzelheiten zu einer zusammenhängenden Vorstellung verursachte Probleme. Bei der Abbildung einer Tankstelle identifizierte er zwar die ankommenden und abfahrenden Fahrzeuge, die Menschen, die Schilder, aber er verstand nicht, was die Leute wollten.“ (Draaisma 2012, S.107)

Interessant an dieser Darstellung ist, daß der Soldat überhaupt keine Gesichter mehr wiedererkennen konnte. Offensichtlich hatte er aber keine Mühe, schon bekannte Gegenstände wiederzuerkennen. Schwierigkeiten hatte er dann wiederum vor allem bei dem Verstehen von Handlungszusammenhängen. Er erkannte zwar einzelne Gegenstände wie Autos, ‚Menschen‘ und Zapfsäulen, konnte sie aber in keinen Sinnzusammenhang bringen. Gesichter sind nicht einfach nur irgendwelche Gegenstände. Um ein Gesicht wiederzuerkennen, bedarf es der Fähigkeit, die Person hinter dem Gesicht wahrzunehmen, was wieder auf das Verstehen eines Sinnzusammenhangs hinausläuft: „S. erkannte ein Gesicht durchaus als Gesicht. Es macht ihm auch keine Mühe, einzelne Elemente in einem Gesicht zu identifizieren, die Nase, die Augen, die Falten und Linien, es gelang ihm nur nicht, sie so zusammenzufügen, dass er die Unverwechselbarkeit dieses einen Gesichts erfasste. Sogar Veränderungen im Gesichtsausdruck konnte er wahrnehmen, das Problem lag darin, dass er diese nicht interpretieren konnte ...“ (Draaisma 2012, S.107)

Gestaltwahrnehmung wie das Erkennen und das Wiedererkennen von Gegenständen (äußere Wahrnehmung) ist also das eine; das Verstehen von Sinn und das Wiedererkennen von Gesichtern (innere Wahrnehmung) ist das andere. Diese innere Wahrnehmung wird aber vor allem durch das Gedächtnis ermöglicht. Dabei bildet das Gedächtnis eine Art ‚Hintergrund‘, ähnlich der Figur-Grund-Differenzierung der Gestaltwahrnehmung. Vor diesem Hintergrund heben sich die einzelnen Erinnerungen als ‚Figuren‘ ab.

Diese Erinnerungsfiguren können wir mit unserer bewußten Aufmerksamkeit fokussieren und sie auch manipulieren. Sie können sich dabei auf verschiedene Weise zeigen: als ‚Erinnerungen‘, als ‚Wissen‘ und als ‚Intuitionen‘. Als Erinnerungen werden uns unsere Gedankenbilder immer dann bewußt, wenn wir ihre Quelle kennen (vgl. Draaisma 2012, S.124): wir können uns erinnern, wann wir etwas erlebt haben, oder daß wir eine bestimmte Information irgendwo gelesen haben bzw. jemand sie uns mitgeteilt hat. Das Wissen um die Quellen unserer Erinnerungen bildet gewissermaßen das Realitätsprinzip des Gedächtnisses.

‚Erinnerungen‘, bei denen wir die Quelle nicht mehr angeben können, von denen wir aber dennoch wissen, daß sie eine Quelle haben, können wir als ‚Wissen‘ bezeichnen, so wie bei einem Lexikon, in dem bei den einzelnen Beiträgen auf die Autorenangabe verzichtet wird. Hier haben wir es mit dem semantischen Gedächtnis zu tun. Das semantische Gedächtnis ist also letztlich nur ein Nebeneffekt von „Quellenamnesie“ (Draaisma 2012, S.139).

‚Erinnerungen‘, bei denen wir nicht einmal mehr wissen, daß sie eine Quelle haben, nehmen wir als ‚Intuitionen‘ wahr. So kann es z.B. zu unbewußten Plagiaten kommen, wenn wir Ideen von anderen als unsere eigenen ausgeben. (Vgl. Draaisma 2012, S.16, 135, 137) Der Fachausdruck für diese unbewußten Plagiate ist „Kryptomnesie“. (Vgl. Draaisma 2012, S.16, 137, 139f., 143) So übernehmen wir wahrscheinlich auch Kollektiverinnerungen aus Mythen, Literatur und Lebenswelt, und integrieren sie als unsere eigenen Erinnerungen. Jan Assmann geht davon aus, daß diese Kollektiverinnerungen auch unsere Lebensführung beeinflussen, insofern wir unsere Biographie an mythischen Vorbildern orientieren. (Vgl. meinen Post vom 05.02.2011)

In gewisser Weise funktioniert das Gedächtnis ‚komplexqualitativ‘, ein Begriff, den Plessner geprägt hat, um den Unterschied zwischen der tierischen und der menschlichen Wahrnehmung zu beschreiben. (Vgl. meinen Post vom 21.10.2010) Mit Bezug auf das Gedächtnis bedeutet er, daß wir zwar einzelne Erinnerungen fokussieren können, aber diese einzelnen Erinnerungen nicht fein säuberlich wie in einem Archiv einordnen oder aus dem Archiv entfernen und vergessen können.

Draaisma erzählt die Geschichte von dem Herrn Bommel aus dem „Büchlein vom Vergessen“ (1980) von Marten Toonder. (Vgl. Draaisma 2012, S.283ff.) Herr Bommel hat den Wunsch, einen peinlichen Vorfall zu vergessen, und ein gewisser Pocus Pas hilft ihm dabei, indem er ihn seine Erinnerung in ein Vergessensbüchlein eintragen läßt und dann Sand darüber streut. Das funktioniert so gut, daß Bommels Mitbürger nun ebenfalls zu Pocus Pas gehen und dort ihre unangenehmen Erinnerungen löschen lassen. Das Problem ist dann aber, daß mit den unerwünschten Erinnerungen auch andere Erinnerungen verlorengehen. Mit den Erinnerungen an einzelne Vorkommnisse gehen zugleich auch alle Erinnerungen an die beteiligten Personen verloren. Kurz: Erinnerungen sind komplexqualitativ. Wir können zwar einzelne Erinnerungen fokussieren, wir können sie aber nicht aus dem Hintergrund des Gedächtnisses herauslösen, ohne daß das gesamte Gedächtnis Schaden nimmt.

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