„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 18. Januar 2014

Douwe Draaisma, Das Buch des Vergessens. Warum Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern, Köln 2012

1. Formen des Vergessens
2. Methode I
3. Methode II
4. Gestaltwahrnehmung und die Gestalt des Gedächtnisses
5. Autobiographisches Gedächtnis
6. Zwei Gehirne und die Einheit des Bewußtseins
7. Zwanghaftes Erinnern
8. Vergessene Träume

Traumata und Träume sind nicht nur Wörter, die sich klanglich ähneln. Beide Begriffe werden auch auf Symptome bezogen, die auf verdrängte Erinnerungen zurückgeführt werden; oder genauer: Träume werden auf verdrängte Erinnerungen zurückgeführt und Traumata führen zur Verdrängung von Erinnerungen. Paradigmatisch für diese Verdrängungshypothese ist Freuds Traumdeutung. Dabei ist sich ‚die Wissenschaft‘ überhaupt nicht einig darüber, ob es so etwas wie ‚Verdrängen‘ überhaupt gibt: „In so gut wie jeder Definition über Verdrängen kommen die Begriffe Trauma und Unbewusstes vor. Versuche, diese Begriffe zu definieren, führen zu zirkulären Beschreibungen wie ‚das Unbewusste ist der Teil des Geistes, in den traumatische Erinnerungen verdrängt werden‘ oder ‚Verdrängen ist Blockieren traumatischer Erinnerungen‘. Verdrängen ist eine unklare Bezeichnung, gespannt zwischen zwei mindestens ebenso unklaren Vorstellungen.“ (Draaisma 2012, S.170)

Dabei haben wir es nicht nur mit einem Definitionsproblem zu tun. Auch experimentell ist die Situation desolat. ‚Verdrängen‘ läßt sich wie ‚Vergessen‘ weder physiologisch nachweisen noch experimentell unter Laborbedingungen herbeiführen. (Vgl. meinen Post vom wie 13.01.2014) Dem Psychologen bleibt nur, so Draaisma, „Verdrängen in Aktion zu sehen, in der Wildnis, im eigenen Biotop.“ (Vgl. Draaisma 2012, S.171)

Als solche ‚Biotope‘ kommen Draaisma zufolge vor allem bestimmte gesellschaftliche Institutionen in Frage, in denen besonders viel über ‚Verdrängen‘ geredet wird: therapeutische Einrichtungen und Gerichtssäle. Denn ob es nun so etwas wie Verdrängen gibt oder nicht, letztlich kommt es hier, so Draaisma, vor allem darauf an, was die Menschen diesbezüglich glauben. Denn unabhängig von der Realität dessen, was sie glauben, sind es, getreu dem „Thomas-Theorem“, vor allem die Konsequenzen, die sich aus ihrem Glauben ergeben, die real sind. (Vgl. Draaisma 2012, S.184)

Das zeigt sich insbesondere an den juristischen Konsequenzen von Vergewaltigungsfällen, in denen es immer auch darum geht, ob die wiederentdeckten ‚Erinnerungen‘ des Vergewaltigungsopfers tatsächlich real sind. Dabei kommt es immer wieder zu prinzipiellen Auseinandersetzungen darüber, ob es so etwas wie ‚verdrängte‘ Erinnerungen überhaupt gibt: „Die eine Partei sieht den Beweis darin, dass Erinnerungen jahrzehntelang unzugänglich sind und durch therapeutische Intervention zurückgeholt werden können. Für die andere Partei beweist dieselbe Geschichte den konstruierten Charakter solcher ‚Erinnerungen‘. ... Auf diese Weise ... entsteht eine heillose Form der Zirkularität: Das Urteil liefert die Unterstützung für die Theorie, die zum Urteil führte.“ (Draaisma 2012, S.186)

Draaismas Verweis auf die „Zirkularität“ entspricht dem, was ich in diesem Blog immer als ‚Rekursivität‘ bezeichne. (Vgl.u.a. meinen Post vom 14.01.2014) Ein klassisches Beispiel für diese Rekursivität bildet der Placebo-Effekt. In einer Sendung des DLF vom 09.01.2014 wird eine Studie mit Migränepatienten vorgestellt: „Beim ersten Durchgang blieb die Migräneattacke unbehandelt. Dann verabreichten die Ärzte ihren Patienten bei den nächsten sechs Migräneattacken dreimal ein Placebo und dreimal ein hochwirksames Migränemedikament. Dabei erfuhren die Studienteilnehmer aber nur je einmal die Wahrheit über die dargereichte Pille, also dass sie ein Placebo beziehungsweise ein echtes Medikament erhielten. Jeweils einmal machten die Mediziner falsche Angaben. Bei der Placebogabe sagten sie, es handele sich um ein wirksames Medikament und bei der Medikamentengabe, die Tablette sei ein Placebo. Außerdem gab es für Placebo und echtes Medikament noch jeweils einen Durchgang bei denen die Mediziner den Patienten mitteilten, sie wüssten gar nicht, ob es sich um ein Placebo oder ein wirksames Medikament handelt. Die Auswertung der Studiendaten zeigte, dass die Information, die mit der Tablette verabreicht wurde, die Wirksamkeit extrem beeinflussen kann.“ (DLF 2014)

Das Ergebnis der Studie war, daß es in der Wirkung keinen Unterschied machte, ob das Placebo oder das echte Medikament verabreicht wurde, wenn der Arzt beim Placebo anmerkte, daß es sich um das echte Medikament handelt, und wenn der Arzt beim Medikament anmerkte, daß es sich um ein Placebo handelt! – Der Experimentator fügt im DLF-Interview noch hinzu, daß Ärzte beim Verschreiben von Medikamenten genau aufpassen müssen, was sie sagen, weil sie damit die Wirksamkeit der Medikamente erheblich beeinflussen.

Wenn diese Rekursivität, also das undurchsichtige Geflecht von wechselseitigen Erwartungserwartungen, sich schon bei klassischen medizinischen Maßnahmen so erheblich auswirkt, um wie viel mehr wirkt es sich wohl bei Therapiesitzungen aus, in denen es darum geht, ‚verdrängte‘ Erinnerungen wieder ‚auszugraben‘?

Draaisma hat das „Thomas-Theorem“ zur Realität bloß ‚geglaubter‘ Vorstellungen auf die realen juristischen Konsequenzen in Vergewaltigungsprozessen bezogen. (Vgl. Draaisma 2012, S.184f.) Beim Placebo aber haben wir es nicht nur mit solchen gesellschaftlichen Institutionen zu tun, sondern mit psychosomatischen Effekten auf die Heilung von Krankheitssymptomen. Aus meinem eigenen Berufsalltag fallen mir die täglichen Beispiele von Kindern mit ADHS ein. Was passiert in ihrem Kopf, wenn ihnen Medikamente zur Behandlung ihrer ‚Symptome‘ verschrieben werden? Selbstverständlich sind auch Kinder rekursiv begabt. Was also denken sie und was glauben sie über sich selbst, wenn sie diese Medikamente einnehmen? Wie wirkt sich das auf ihr Verhalten aus, – ganz unabhängig davon, was die Medikamente selbst bewirken?

Bei den Symptomen ‚verdrängter‘ Traumata gibt es sogar noch eine ganz andere, wiederum innerwissenschaftliche Auseinandersetzung. Tatsächlich haben die Vertreter des Verdrängungshypothese einen schweren Stand, denn traumatische Erinnerungen werden anscheinend nicht verdrängt, sondern drängen sich im Gegenteil dem Betroffenen regelrecht auf, so daß es weniger darum geht, verdrängte Erinnerungen wieder ‚auszugraben‘, als vielmehr darum wie man die unkontrollierbaren ‚Flashbacks‘ wieder los wird.

Studien, die von gut dokumentierten belastenden und traumatisierenden Ereignissen ausgehen und überprüfen, ob sich die Betroffenen an diese Ereignisse erinnern oder sie vergessen, „treffen sich bei der Schlussfolgerung, dass ‚Vergessen‘ auftritt, weil Einzelheiten aus der Erinnerung verschwinden oder sich allmählich Diskrepanzen in die Erinnerung einschleichen, aber dass von Verdrängen oder Abspalten keine Rede sein kann. Was Traumata mit dem Gedächtnis anstellen, ist eher ihre Rückkehr als Verdrängung.“ (Vgl. Draaisma 2012, S.196)

Wir haben es also bei traumatischen Symptomen weniger mit Verdrängungen zu tun, die auf therapeutischem Wege mühsam wieder aktualisiert werden müssen, als vielmehr mit zwanghaften Erinnerungen. Und die Patienten wünschen sich nichts sehnlicher als zu vergessen.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen