„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 10. Februar 2014

Matthew B. Crawford, Ich schraube, also bin ich. Vom Glück, etwas zu schaffen, Berlin 2010

1. Trennung von Denken und Tun
2. Anthropologie
3. Einheit von Denken und Tun
4. Bildungssystem
5. Phänomenologie

Eine Einheit von Denken und Tun gibt es Crawford zufolge bis heute nur im Handwerk: „Ich möchte in diesem Buch für ein Ideal werben, das zeitlos ist, heute jedoch kaum noch Fürsprecher findet: für das handwerkliche Können und die darin zum Ausdruck kommende Einstellung zur von Menschenhand geschaffenen, dinglichen Welt.“ (Crawford 2010, S.10f.)

Wenn Crawford von der „Einstellung“ des Handwerkers „zur von Menschenhand geschaffenen, dinglichen Welt“ spricht, so müssen wir insbesondere auf seine Verwendung des Begriffs „Einstellung“ achten. Der Handwerker hat nicht einfach nur eine ‚Haltung‘ zur Welt, wie ich sie in diesem Blog mit Bezug auf Helmuth Plessners Anthropologie diskutiert habe. (Vgl. meinen Post vom 31.12.2010) Natürlich ist die „Einstellung“ des Handwerkers zu den materiellen Dingen Teil seiner Haltung zur Welt. Aber auf die Geräte und Apparate, mit denen er sich als Handwerker befaßt, ‚stellt‘ er sich auf eine ganz spezifische Weise ‚ein‘, so wie ein Musiker sich auf sein Musikinstrument einstellt, das er auf seinen Gebrauch in der bevorstehenden Musikaufführung ‚einstimmt‘, also wiederum ‚einstellt‘. Auch der KFZ-Mechaniker ‚stellt‘ den Motor, an dem er gerade arbeitet, neu ‚ein‘ und muß sich genau zu diesem Zweck selbst auf diesen Motor ‚einstellen‘.

Daran wird deutlich, daß der Handwerker eine komplexe, gleichzeitig intellektuelle wie moralische und ästhetische Leistung erbringt: „Ich finde“, schreibt Crawford, „das Konzept der Einstellung hilfreich, um die Wirkung der mechanischen Arbeit auf mich und andere mir bekannte Menschen zu untersuchen. Oder ist es vielleicht so, dass vor allem Menschen mit einer bestimmten Einstellung von der mechanischen Arbeit angezogen werden?“ (Vgl. Crawford 2010, S.100f.) – Crawford spricht von einer „Verquickung von intellektuellen und moralischen Eigenschaften“. (Vgl. ebenda) Die übliche Trennung „zwischen intellektuellen und moralischen Tugenden“ hält er für „nicht angebracht“. (Vgl. Crawford 2010, S.127)

Mit der letzten Bemerkung geht Crawford über das rein Handwerkliche hinaus. Nicht umsonst vergleicht er die Einstellung des KFZ-Mechanikers zum Fahrzeug mit der eines Arztes. Dazu greift er auf den Begriff der „Stochastik“ zurück, der zwar als Obergriff für die mathematischen Gebiete der Wahrscheinlichkeitstheorie und der Statistik gebräuchlich ist, aber ursprünglich einfach nur die Kunst des Verstehens meint: „Es gibt jedoch noch eine weitere Gruppe von Fertigkeiten, die Aristoteles als ‚stochastisch‘ bezeichnet. Ein Beispiel ist die Medizin. Die Beherrschung einer stochastischen Fertigkeit ist durchaus mit der Unfähigkeit vereinbar, das angestrebte Ziel zu erreichen (in diesem Fall die Gesundheit). Aristoteles schreibt, es sei nicht die Aufgabe der Medizin, den Menschen gesund zu machen, sondern lediglich, die Gesundheit möglichst zu fördern.() ... Der Grund dafür ist, dass Arzt und Mechaniker das, was sie reparieren sollen, nicht selbst hergestellt haben, weshalb sie es unmöglich vollkommen kennen können.“ (Crawford 2010, S.111)

Stochastik steht also Crawford zufolge für das menschliche Urteilsvermögen, das „zugleich kognitiv und moralisch“ ist (vgl. Crawford 2012, S.112), also für die Einheit von Denken und Tun. Es geht Crawford um eine grundlegende anthropologische These: ‚Intelligenz‘, die wir üblicherweise mit unserem abstrakten Denkvermögen gleichsetzen, ist immer schon eine praktische Intelligenz bzw. „handelndes Denken“ (vgl.S.210-233). Denken und Tun bilden eine Einheit und lassen sich nicht auf einen abstrakten Intelligenzquotienten reduzieren. Insbesondere wenn wir einem jungen Menschen helfen wollen, sich für einen künftigen Beruf zu entscheiden, lautet Crawford zufolge die für diesen jungen Menschen „entscheidende Frage nicht unbedingt, welchen Intelligenzquotienten er hat, sondern ob er behutsam oder gebieterisch ist“ (vgl. Crawford 2010, S.100), also welches Temperament und welche Persönlichkeit er hat.

Wenn man ihm außerdem einen Tip geben soll, welche beruflichen Tätigkeiten eine ökonomische Zukunft haben, sollte man ihm Tätigkeiten empfehlen, die sich nicht auf Regeln reduzieren lassen. Tätigkeiten, die sich auf Regeln reduzieren lassen, können durch Algorithmen oder durch billigere Arbeitskräfte ersetzt werden. Was sich aber niemals auf Regeln reduzieren läßt, ist das Handwerk, weil es von „jene(r) Art von Urteilsvermögen“ abhängt, wie sie mit der Einstellung des Handwerkers zu seiner Arbeit verbunden ist: „Man brauchte eher Gespür als Regeln.“ (Crawford 2010, S.41) – Und dieses „Gespür“ erlangt der Handwerker nicht durch das Befolgen von Regeln, sondern durch „Erfahrung“. (Vgl. ebenda)

Regeln und Algorithmen sind Verfahren, die bei der Problemlösung helfen sollen. Probleme zu lösen ist aber oft erst der zweite Schritt. Zunächst muß man das Problem finden, das gelöst werden soll: „In vielen Fällen geht es ... weniger um Problemlösung als um Problemfindung. ... Im Allgemeinen müssen wir unter einer Vielzahl von Informationen jene finden, die von Bedeutung sind. Wenn wir herausfinden können, welcher Art das Problem ist, wissen wir, welche Bestandteile einer Situation wir außer Acht lassen können. ... Was Bestandteil der Situation ist, kann nicht durch die Anwendung von Regeln festgestellt werden, sondern erfordert jene Art von Urteilsvermögen, das sich auf Erfahrung stützt.“ (Crawford 2010, S.53)

Wenn ein Motor Öl verliert, haben wir das eigentliche Problem noch lange nicht gefunden. Es gehört zu den Standardproblemen, die wir auch im Motorradhandbuch nachschlagen können, das uns verschiedene Lösungen anbietet. Tatsächlich muß die eigentliche Ursache für den Ölverlust immer noch gefunden werden, bevor man sich für eine der vorgegebenen Lösungsvorschläge entscheidet oder man sich notfalls eine andere, nicht im Handbuch vorgesehene Lösung ausdenken muß. Um die Ursache für den Ölverlust zu finden, bedarf es wiederum einer genaueren Kenntnis der Umstände, des Fahrers, der speziellen Motorradmarke und der für Ölverluste typischen Situationen, die zu diesem Fahrer und dieser Motorradmarke passen.

Das Urteilsvermögen, diese Einheit aus Denken und Tun, das jedes Handwerk auszeichnet, beruht also auf Intuitionen und implizitem Wissen, die sich nicht mit Regeln und Algorithmen erfassen lassen. (Vgl. Crawford 2010, S.219) Und um dieses Urteilsvermögen zu aktivieren, bedarf es neben der Erfahrung in erster Linie des Interesses: „Voraussetzung für den Einsatz des Urteilsvermögens scheint zu sein, dass für den Benutzer einer Maschine etwas auf dem Spiel steht, dass er ein Interesse an ihr hat. Dieses entspringt der körperlichen Auseinandersetzung mit einer harschen Wirklichkeit, mit einer Wirklichkeit von der Art, die ausschlägt“ (Crawford 2010, S.84) – wie ein Maultier, wie Crawford schreibt (vgl. Crawford, S.80ff.). Und er meint das wortwörtlich, wenn man etwa bei älteren Motorrädern den Kickstarter betätigte und dabei immer befürchten mußte, einen ‚Tritt‘ gegen das Schienbein zu erhalten.

Wie sehr dieses „Konzept des impliziten Wissens“ (Crawford 2010, S.219) durch die Schnittstellen-Ideologie digitaler Kommunikationstechnologien pervertiert wird, zeigt die Bewerbung eines Mercedesmodells, das „als ‚vollkommen intuitiv‘ bezeichnet“ wird. Was meint hier ‚intuitiv‘? Es geht dabei um eine Schnittstellenideologie, die dem Benutzer das Selberdenken abnehmen will: „Bei elektronischen Geräten finden die physikalischen Abläufe auf einer Ebene statt, auf der sie sich der unmittelbaren Erfahrung entziehen. Die ‚Schnittstelle‘ des Computers fügt eine weitere Abstraktionsebene hinzu, da sie den Benutzer obendrein gegen die von Menschen entwickelte Logik des Programms abschirmt, das die Software antreibt. ... Die Schnittstelle soll ‚intuitiv‘ sein, das heißt, sie soll nach Möglichkeit verhindern, dass sich zwischen den Absichten des Benutzers und ihrer Umsetzung eine Kluft auftut.“ (Crawford 2010, S.85)

Um einen Mercedes zu fahren, der „vollkommen intuitiv“ ist, brauchen wir eigentlich keine besonderen Kenntnisse. Anstatt über Erfahrungen und Kenntnisse zu verfügen, fügen sich die verschiedenen ‚Schnittstellen‘ des Fahrzeugs, von den Armaturen über die Steuerung bis hin zu Schaltungen, Hebeln und Pedalen wie von selbst dem unbedarften Zugriff des „Idioten“ (vgl. Crawford 2010, S.130), wie sich Crawford ausdrückt, dem tatsächlich nicht einmal mehr ein Ölmeßstab zur Verfügung steht, während ihn stattessen bei niedrigem Ölstand eine Warnleuchte (vgl. Crawford 2010, S.86), von Crawford auch als „Idiotenlicht“ bezeichnet, darauf hinweist, daß es Zeit ist, eine Werkstatt aufzusuchen: „... in einer unergründlichen kulturellen Logik ist Idiotie zu etwas Wünschenswertem umgedeutet worden ...“ (Crawford 2010, S.87)

‚Intuition‘ und Urteilsvermögen werden so zum Gegenteil dessen pervertiert, was sie eigentlich bedeuten, nämlich die Einheit des Denkens und Handelns, von Intellekt, Moralität und Ästhetik, die Crawford mit Situationsbezogenheit, Ortsbezogenheit und öffentlicher Verantwortung verbindet. Die  intuitive Schnittstellentechnologie hingegen macht uns blind für unsere tatsächlichen Abhängigkeiten von einer funktionierenden technischen Infrastruktur.

Der Handwerker, etwa ein KFZ-Mechaniker, ist eben kein „Idiot“, der kein „Interesse“ an dem Motorrad hat, das ihm der Kunde in die Werkstatt schiebt und das er, anstatt es zu reparieren, durch seine oberflächlichen Diagnosen und Reparaturversuche nur noch mehr beschädigt, zu Lasten der Geldbörse des Kunden. (Vgl. Crawford 2010, S.129ff.) Der KFZ-Mechaniker muß vielmehr ein Gleichgewicht finden zwischen seiner eigenen, wie Crawford schreibt, „metaphysischen“ Wißbegier, die ihn dazu verleiten könnte, den technischen Problemen eines Motorrades zu sehr auf den Grund zu gehen, und den finanziellen Möglichkeiten des Kunden. Er muß die Interessen des Kunden treuhänderisch verwalten, was u.U. bedeuten kann, auf eine teure Grundsanierung zu verzichten, die bei älteren Motorrädern mit ihren verrosteten Schrauben und unzugänglichen, verletzlichen Gummidichtungen immer auch die Gefahr einer zusätzlichen, für den Kunden sich möglicherweise als teuer herausstellenden Beschädigung beinhaltet. Stattdessen sollte er in solchen Fällen besser in Erwägung ziehen, nur dafür zu sorgen,  daß das Motorrad noch einige tausend bis zehntausend Kilometer durchhält. (Vgl. Crawford 2010, S.159ff.)

Der KFZ-Mechaniker muß also, wie alle Handwerker, nicht nur die „Selbstbefangenheit des Idioten“, sondern auch die „eingeschränkte Sicht“ des bloß „Wissbegierigen“ überwinden und einer öffentlichen Verantwortung gerecht werden. (Vgl. Crawford 2010, S.164) Das gilt nicht nur für seine Verantwortung für den jeweiligen einzelnen Kunden, sondern auch für eine kommunale Gemeinschaft von Nachbarn und Mitbürgern, wenn z.B. Elektriker dafür sorgen, daß lebensnotwendige Infrastrukturen vor Ort, von denen alle abhängen, funktionieren: „Wir sind gar nicht so frei und unabhängig, wie wir gedacht hatten. Reparaturarbeiten, die die Infrastruktur (die Kanalisation unter der Straße oder das Stromnetz darüber) unterbrechen, machen den Menschen ihre gemeinsame Abhängigkeit bewusst.“ (Crawford 2010, S.29)

Genau diese Art von Tätigkeiten ist es, die niemals durch Automatisierung oder durch Algorithmen ersetzt werden kann. Wie virtuell unsere um Narzißmen kreisende Lebenswelt tatsächlich geworden ist, zeigt sich spätestens dort, wo der nächste große Stromausfall stattfindet. Ob unsere alltäglichen Lebenserhaltungsgeräte nun „made in China“ oder von sonst wo sind, wird irrelevant sein gegenüber der Frage, wie qualifiziert und wie verantwortungsvoll die Reparaturtrupps sind, die die Leitungen wieder instandsetzen sollen.

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