„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 23. März 2014

Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin 2014

(Neofelis Verlag UG, 790 S., Print (Softcover): 32,--)

(I. Wie ist eine Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft möglich?, S.47-148 / II. Lukács und das identische Subjekt-Objekt der Geschichte: Die Idee des Kommunismus und die Identifikation der Arbeit durch das Maß der Zeit, S.149-324 / III. Adornos negative Dialektik und die Logik der Identifikation durch das Maß, S.325-516 / IV. Zwischen Lukács und Adorno. Alfred Sohn-Rethel, die Wertform als Transzendentalsubjekt und dessen blinder Fleck: Die kapitalistische Bestimmung von Ware und Arbeit, Wert und Geld, S.517-646 / V. Die Rätselhaftigkeit des Geldes durch die Auflösung der Ökonomie in Zeit, S.647-744 / VI. Schluss, S.745-764)

13. Prolog: Das Geburtstagsgeschenk
14. Schwarze Löcher, Vakuum
15. Noch einmal: Mehrwert
16. Eine ‚kritische‘ Bilanz

Wenn Engster den im Geld bewahrten Wert der aus der Zeit gefallenen Waren als „untot“ bezeichnet (vgl. Engster 2014, S.662), so ist damit die einst ‚lebendige‘ Arbeitszeit gemeint, mit der diese jetzt nicht mehr vorhandenen Waren produziert worden sind. Die im Geld bewahrte, einst lebendige Arbeitszeit ist also zur ‚toten‘ Arbeitszeit geworden, bzw. eben „untot“, weil sie durch „Übertragung“ auf neue Waren wieder verlebendigt werden kann: „Im Kapitalismus ist die lebendige Arbeit, welche konkrete Gestalt sie auch immer annimmt und was immer sie auch produziert, die Arbeit des Übertragens ihrer Vergangenheit aufseiten des Kapitals, mithin Arbeit des Bewahrens vorhandenen Werts durch seine Übertragung auf neue Waren.“ (Engster 2014, S.662)

Beim Verhältnis von lebendiger Arbeitszeit (Arbeiter) und toter Arbeitszeit (Kapital bzw. Geld) haben wir es also mit einem Zeitverhältnis zu tun, und dieses Zeitverhältnis bildet die Grundlage einer „Ökonomie der Zeit.“ (Vgl.u.a.S.648) In dieser Ökonomie wird auf der Grundlage des Verhältnisses von lebendiger und toter Arbeitszeit, von Arbeit und Kapital, mit der Übertragbarkeit einer im Geld bewahrten Vergangenheit (ehemals lebendige Arbeitszeit) auf eine Gegenwart (aktuell produzierte Waren) mit der Zukunft (einem Profit bzw. Mehrwert) gerechnet. Dabei bilden die errechneten ‚Werte‘ Durchschnittsgrößen wie „Gesamtarbeitszeit“ und „Gesamtkapital“ (vgl. Engster 2014, S.668) oder „Durchschnittsarbeitszeit“ (Engster 2014, S.672), „allgemeine Profitrate“ (Engster 2014, S.675) und „Durchschnittsprofit“. Natürlich bilden auch die Preise Durchschnittsgrößen (vgl. Engster 2014, S.716), die alle eins gemeinsam haben: in ihnen wird ein Zeitverhältnis errechnet, das aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht und als Gesamtverhältnis keine gerade Linie in Richtung auf eine offene Zukunft bildet. (Vgl. Engster 2014, S.704) Wir haben es vielmehr mit einer „Zeitschleife“ (Engster 2014, 708) zu tun, in die der neu gebildete Mehrwert immer wieder eintritt, um aufs Neue ‚übertragen‘ zu werden.

Wie das? Wo kommt dieser ‚Mehr‘-Wert her? – Mit dieser Frage habe ich mich schon einmal im Rahmen dieser Besprechung befaßt. (Vgl. meinen Post vom 05.03.2014) Jetzt kann ich mich dieser Frage noch einmal mit etwas mehr Verständnis zuwenden. Es sind zwei Aspekte, auf die es hier ankommt: einmal die „Differenz“, die das Geld im Verhältnis zu sich selbst, als Kapital, eingehen muß (vgl. Engster 2014, S.648), und zum anderen die Differenz, die sich zwischen einer Ökonomie der Zeit und der Lebenszeit von Menschen und Waren eröffnet (vgl. Engster 2014, S.700f.).

Die Differenz des Geldes zu sich selbst faßt Engster in die Formel G/G', womit der nicht in der Äquivalenzbeziehung der Waren zueinander aufgehende Mehrwert als „Nicht-Äquivalent“ (Engster 2014, S.700) gemeint ist. Dieses Nicht-Äquivalent stammt von der Ware Arbeitskraft, die als Ware einerseits eine Äquivalenzbeziehung in Form ihrer Reproduktionskosten (Lohn) darstellt, zugleich aber eben auch eine Nicht-Äquivalenz beinhaltet, insofern sie in der Übertragung von im Geld und in den Produktionsmitteln aufbewahrter toter Arbeitszeit auf neue Waren nicht nur neue Werte schafft, sondern auch Mehrwert. Da sie aber nicht gleichzeitig äquivalent und nicht-äquivalent sein kann (vgl. Engster 2014, S.700), eröffnet die Ware Arbeitskraft ein zeitliches Verhältnis, indem sie in die Warenproduktion zunächst als Äquivalent eingeht, und der Mehrwert sich dann erst in den Resultaten des Arbeitsprozesses, also im Warentausch einstellt.

Dieses zeitliche Verhältnis beschreibt Engster als Futurum II: Die Übertragung und Vermehrung von toter Arbeitszeit „(eröffnet) eine zukünftige Vergangenheit, denn wenn das Geld in die beiden Bestandteile“ – lebendige und tote Arbeitszeit – „der Verwertung ausgelegt wird, dann wird mit seiner vermehrten Rückkehr gerechnet. Wird aber damit gerechnet, dass der Wert des Geldes durch die Verwertung vermehrt wird, dann wird mit der Gewordenheit seiner zukünftigen Gegenwart gerechnet. Seine Entäußerung ist gleichsam der Entwurf dieser Zukunft, da die Entäußerung die Zukunft im Sinne des Futur Perfekt vorwegnimmt, des Futur II: Es wird damit gerechnet, was die Auslegung des Geldes in die Verwertung nach seiner Rückkehr daraus wert gewesen sein wird.()“ (Vgl. Engster 2014, S.671)

Das zeitliche Verhältnis, das die Ware Arbeitskraft eröffnet, um den Widerspruch zwischen Äquivalent und Nicht-Äquivalent als Ökonomie der Zeit aufzulösen und produktiv werden zu lassen, also Mehrwert zu produzieren, läßt sich an den Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft festmachen. Ein Teil der Arbeitszeit, den die Ware Arbeitskraft als Lohn vergütet bekommt, geht in ihre Reproduktion. Darin besteht ihr Äquivalent als Ware, und dieser Teil des Arbeitsprozesses ist die notwendige Arbeitszeit. Der andere Teil besteht in der zusätzlichen Arbeitszeit, die nicht bezahlt wird und den Mehrwert bildet. (Vgl.u.a. Engster 2014, S.215)

Dieses Verhältnis, notwendige Arbeitszeit und zusätzliche Arbeitszeit, ist variabel. (Vgl. Engster 2014, S.665) Die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft können gesenkt werden, indem z.B. mehr Arbeitskräfte eingestellt werden. Der so entstehende Mehrwert wird auch als „absoluter Mehrwert“ bezeichnet. (Vgl. Engster 2014, S.685) Die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft können aber auch gesenkt werden, indem die Arbeitszeit mittels verbesserter Technologie verkürzt wird und mehr Waren produziert werden. Das nennt sich dann „relativer Mehrwert“. (Vgl. Engster 2014, S.686) Der relative Mehrwert ist also auf die „Steigerung der Produktivkraft“ zurückzuführen und bildet so die Grundlage für „einen ebenso unaufhaltsamen wie unhintergehbaren“, gesellschaftlichen „Fortschritt“. (Vgl. Engster 2014, S.718f.)

Diese scheinbar positive Bestimmung des relativen Mehrwerts täuscht allerdings über etwas Entscheidendes hinweg: der relative und der absolute Mehrwert haben nämlich miteinander gemeinsam, daß beide über die Senkung der Reproduktionskosten die lebendige Arbeit entwerten: „... mit ihnen“ – den verbesserten Technologien – „produziert die Ware Arbeitskraft ihre eigene Entwertung durch die Senkung ihrer Reproduktionskosten – bis hin zur Ersetzung und Entlassung der Ware Arbeitskraft als solcher aus dem Produktionsprozess.“ (Vgl. Engster 2014, S.707f.) – Anstatt also im Kommunismus zu münden, wie sich die Marxisten diesen technologischen Fortschritt zurechtlegten, erhöht sich nur die „Reservearmee“ der Arbeitslosen. (Vgl. Engster 2014, S.688)

Hier wird noch einmal der innere Widerspruch der Mehrwertproduktion offensichtlich. Einerseits hängt diese Mehrwertproduktion, wie Engster immer wieder betont, am Verhältnis von lebendiger und toter Arbeit: „Einzig und allein durch die Verwertung von toter und lebendiger Arbeitszeit kann das Geld quantitativ umschlagen und vermehrt zurückkehren – nur hierdurch erhält das Geld seinen eigenen Wert und seine Deckung. Das Geld kann seine Bewegung von G zu G' – die ‚Mutter aller verrückten Formen‘() – nur verwirklichen, wenn es in die kapitalistische Warenproduktion ausgelegt wird und über die Verwertung von Arbeit und Kapital umschlägt und (vermehrt) zu sich zurückkehrt.() Dieses Axiom ist eine Art unbedingter Materialismus ...“ (Engster 2014, S.674; Vgl. auch S.706)

Andererseits sorgt aber gerade die relative Mehrwortproduktion für eine tendenzielle Abschaffung der menschlichen Arbeitskraft. D.h. der relative Mehrwert, und mit ihm der Kapitalismus, schafft sich selbst ab. – Da kann irgendwas nicht stimmen.

Das führt uns zur zweiten Differenz: zur Differenz zwischen einer Ökonomie der Zeit und der Lebenszeit des Menschen. Ich hatte schon in meinem Post vom 05.03.2014 von den Reproduktionskosten gesprochen, die angeblich im Lohn angemessen (äquivalent) berücksichtigt werden. Dabei ging es mir darum, daß nicht einmal das Geld auf seine bewußtlose und automatische Weise die komplexe Gewordenheit der menschlichen Person ‚berechnen‘ könne. Marx hat diesbezüglich allerdings keine Zweifel: „Marx zufolge ist der Tauschwert der Ware Arbeitskraft, genau wie bei jeder gewöhnlichen Ware, durch das Quantum Arbeitskraft bestimmt, das ihre Produktion kostet, aber die Produktion schließt die gesamte Reproduktion der Ware Arbeitskraft ein, einschließlich Ausbildung und Qualifikation, Reproduktion der Familie und der Arbeiterklasse etc. ...“ (Engster 2014, S.664, Anm.14)

Wir haben es also auch bei Marx mit einem so komplex gefaßten Reproduktionsbegriff zu tun, daß er mit dem Begriff der Familie auch die biologische und die kulturelle Geschichte der Ware Arbeitskraft umfaßt. Das läuft dann aber auf eine faktische Unberechenbarkeit der Reproduktionskosten hinaus, denn eine solche Rechenkapazität ist vernünftigerweise nicht einmal dem Geld zuzutrauen.

Interessant ist nun aber, daß der Mehrwert genau von dieser Lebenszeit des Menschen abhängt, – und das nicht etwa im Sinne einer bloßen Berechnung ihrer Reproduktionskosten! In den Arbeitsprozeß gehen nämlich notwendige und zusätzliche Arbeitszeit auf ungeschiedene Weise ein. (Vgl. Engster 2014, S.701) Im Produktionsprozeß selbst kann noch nicht zwischen notwendiger und zusätzlicher Arbeitszeit unterschieden werden!

Das ist erstaunlich: hatte es bislang nicht geheißen, daß im Produktionsprozeß Äquivalent und Nicht-Äquivalent der Ware Arbeitskraft zeitlich auseinandertreten? Und wird jetzt nicht geradezu das Gegenteil behauptet?

Anscheinend liegt die entscheidende Differenz doch woanders, und um diese Differenz beschreibbar zu machen, führt Engster jetzt den Begriff der alltäglichen, „vulgären“ Zeit ein. (Vgl. Engster 2014, S.700) Mit dieser vulgären Zeit ist aber nichts anderes gemeint als eben die ‚Lebenszeit‘ von Menschen und Gebrauchsgütern!

Entscheidend ist, daß die Ungeschiedenheit von notwendiger und zusätzlicher Arbeitszeit den Produktionsprozeß als Lebensprozeß qualifiziert. Nur weil der Arbeiter lebendig ist (lebendige Arbeit), kann seine Arbeit nicht nacheinander, also in der Zeit des Produktionsprozesses, zunächst notwendig und dann zusätzlich sein! ‚Zusätzlich‘ (und ‚untot‘) kann die Arbeitszeit erst werden, wenn sowohl die Waren wie auch die Ware Arbeitskraft sich verbraucht haben, also nach derem ‚Tod‘, was bei der diesen ‚Tod‘ überlebenden Arbeitskraft auf den Verlust eines bestimmten Lebenszeitquantums hinausläuft: also schlicht auf den Verlust von Lebenszeit!

Erst also, wenn die Ware Arbeitskraft sich reproduziert hat, also das ihrem Lohn angeblich entsprechende Quantum Lebenszeit verausgabt hat, und erst, wenn all die produzierten Waren konsumiert und verbraucht worden sind, wird der im Geld aufbewahrte Wert dieses ganzen Produktionsprozesses zum Mehrwert: „Dieses In-die-Zeit-Fallen“ – was Engster als vulgäre Zeit bezeichnet – „ist notwendig, da die bloße Teilung in notwendige und zusätzliche Arbeitszeit, die bereits im Arbeitsprozess und seiner Warenproduktion getroffen wird, hier noch unterschiedslos in die Waren eingeht und erst durch die Realisierung der Waren und die Reproduktion der Ware Arbeitskraft zur Differenz zwischen den Reproduktionskosten dieser Ware Arbeitskraft und den von ihr produzierten Waren werden kann; dann erst, erst im Zuge dieses Realisierens wird die zusätzliche Arbeitszeit von der notwendigen geschieden, sodass sie aus der Zeit gleichsam herausfallen und im Profit erhalten bleiben kann.“ (Engster 2014, S.701)

Es ist also nicht nur die menschliche bzw. lebendige Arbeitskraft, auf die bei der Mehrwertproduktion nicht verzichtet werden kann und die scheinbar über den Lohn ‚reproduziert‘ wird. Es ist die ganze Geschichte des Lebens in den Menschen und in den Dingen, die bei der Mehrwertbildung ausgebeutet wird. Die Ökonomie der Zeit ist ein Parasit und bohrt sich wie eine Zecke in den warmen, vulgären Leib der Lebenszeit.

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