„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 5. März 2014

Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin 2014

(Neofelis Verlag UG, 790 S., Print (Softcover): 32,--)

(I. Wie ist eine Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft möglich?, S.47-148 / II. Lukács und das identische Subjekt-Objekt der Geschichte: Die Idee des Kommunismus und die Identifikation der Arbeit durch das Maß der Zeit, S.149-324 / III. Adornos negative Dialektik und die Logik der Identifikation durch das Maß, S.325-516 / IV. Zwischen Lukács und Adorno. Alfred Sohn-Rethel, die Wertform als Transzendentalsubjekt und dessen blinder Fleck: Die kapitalistische Bestimmung von Ware und Arbeit, Wert und Geld, S.517-646 / V. Die Rätselhaftigkeit des Geldes durch die Auflösung der Ökonomie in Zeit, S.647-744 / VI. Schluss, S.745-764)

4. Die subjektive Zutat
5. Der Standpunkt des Geldes
6. Mehrwert

Die verschiedenen Unterscheidungen, die Marx hinsichtlich der Arbeit trifft, gehen über die von Hegel getroffenen zwei Unterscheidungen des Bewußtseins in sich selbst (1), als Gegenstand, und einem anderen Selbstbewußtsein gegenüber (2), von denen die letztere Unterscheidung das Narrativ vom Herr-Knecht-Verhältnis ‚freisetzt‘, noch weit hinaus. Der analog zur von Hegel getroffenen ersten Unterscheidung der „Arbeit von ihr selbst“ als Ware fügt Marx weitere Unterscheidungen der Arbeit in „konkrete“ und „abstrakte“ (vgl. Engster 2014, S.208), in „lebendige“ und „tote“ (vgl. Engster 2014, S.209ff.), in „produktive“ und „unproduktive“ (vgl. Engster, 2014, S.211ff.) und in „notwendige“ und „zusätzliche“ Arbeit (vgl. Engster 215) hinzu. Später kommt Engster noch auf  eine weitere Unterscheidung in „variable“ und „konstante“ Arbeit zu sprechen. (Vgl. Engster 2014, S.289f.)

Zunächst gelingt es Engster auch, diese vielen verschiedenen Unterscheidungen plausibel zu beschreiben. In der Folge werden diese Unterscheidungen aber immer wieder diffus und scheinen ineinander überzugehen, insbesondere, wenn es um die Frage geht, wie Mehrwert entsteht. Das ist insofern bedauerlich, als sich der Mehrwert Engster zufolge nicht auf einzelne Kategorien wie Arbeit, Ware oder Kapital zurückführen läßt, sondern ihrem Verhältnis zueinander, letztlich dem Verhältnis von Arbeit und Kapital entspringt. (Vgl. Engster 2014, S.280) Dieses ‚Verhältnis‘ besteht, nach allem, was Engster schreibt, im wesentlichen aus der Unterscheidung zwischen lebendiger und toter Arbeit, wobei das Kapital als akkumulierte, ehemals lebendige und jetzt tote Arbeit zu verstehen ist. (Vgl.u.a. Engster 2014, S.65)

Nach allem, was ich bis jetzt gelesen habe, gibt es zwei Quellen, aus denen Mehrwert entspringen kann. Die eine Quelle ist die lebendige Arbeit selbst, die keinen Wert hat – „Es kann gar nicht genug betont werden, dass nach Marx die lebendige Arbeit keinen Wert hat.“ (Engster 2014, S.209) –, und die andere Quelle besteht in der Steigerung der Produktivkraft. Beides führt aber, wie ich meine, zu keinem wirklichen Mehrwert. Wir haben es vielmehr mit Ausreden bzw. Verschleierungen der eigentlichen Wertquellen zu tun.

Die lebendige bzw. konkrete Arbeit, „gefasst als bloße Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv“, von denen es ebenfalls heißt, daß sie „überhaupt keinen Wert“ haben (vgl. Engster 2014, S.66), hat nur in Bezug auf das Verhältnis ‚Wert‘, das sie mit sich selbst als toter Arbeit eingeht (vgl. ebenda). ‚Tote‘ bzw. ‚abstrakte‘ Arbeit wird in Waren bzw. im Kapital ‚aufbewahrt‘. Diese bilden Werte aber nur als Äquivalenzrelationen ab. Mehrwert bildet hingegen eine „Nicht-Äquivalenz“. Wie kommt diese zustande? Indem die Ware Arbeitskraft bei der Produktion von Waren diesen Waren mehr Wert zusetzt, als ihr als „Lohn“ gezahlt wird, der wiederum das Äquivalent für ihre Selbsterhaltung (Reproduktion) bildet. (Vgl. Engster 2014, S.195)

Daß die Ware Arbeitskraft seltsamer Weise dazu in der Lage ist, der von ihr produzierten Ware mehr Wert hinzuzufügen, als sie, die Arbeitskraft, für ihre Reproduktion benötigt, macht letztlich ihren „Gebrauchswert“ aus, den sie für das Kapital hat: „Der zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft notwendige Wert jedenfalls bestimmt ihren Tauschwert, den Lohn – auch wenn der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft wiederum darin besteht, mehr Tauschwert zu produzieren, als sie selbst im Lohn zur Reproduktion erhält.“ (Engster 2014, S.209)

Dieser Argumentationszusammenhang ist irgendwie merkwürdig. Man faßt sich an den Kopf und sucht fast zwangsläufig nach dem Gedankenfehler, der darin versteckt liegen muß, als hätte man es mit einem dieser berüchtigten Kettenbriefe zu tun, die mysteriöse Gewinne versprechen, solange es nur genügend Dumme gibt, die am Ende draufzahlen.

Die Waren – einschließlich die Ware Arbeitskraft – stehen also in einer Äquivalenzrelation zueinander. Auch der Lohn bildet eine Äquivalenzrelation ab: nämlich zu den Reproduktionsnotwendigkeiten der Ware Arbeitskraft. Worin genau besteht also nun das ‚Mehr‘ des Werts, das die Arbeitskraft den von ihr produzierten Waren zusetzt?

Der Trick bzw. der Betrug scheint in dem Wort ‚Reproduktion‘ zu stecken. Was genau braucht die Ware Arbeitskraft, um sich zu reproduzieren? Es war schon im letzten Post von der existentiellen Verschränkung der Warenfunktion mit der Personhaftigkeit des Arbeiters die Rede gewesen. Wird nur dessen Warenfunktion als Arbeitskraft ‚reproduziert‘, oder bedarf die Personhaftigkeit des Arbeiters ebenfalls einer entsprechenden Berücksichtigung? Marx scheint der Meinung gewesen zu sein, daß es Personen vor der ursprünglichen Akkumulation, aus der die Ware Arbeitskraft und das Kapital hervorgegangen sind, gar nicht gegeben hat und der Arbeiter erst jetzt, wo er für seine Arbeitskraft bezahlt wird, „noch etwas außer seiner Arbeit für sich ist“. (Vgl. Engster 2014, S.203) Die ‚Person‘, so Engster, kann also als „der nicht-aufgehende Rest ‚außer‘ der Arbeit“ definiert werden und wird so erst zu etwas Erhabenem und Heiligem, was gleichzeitig bedeutet, daß sie außerhalb des Wertverhältnisses von Waren steht, als das „Unverkäufliche, Unveräußerliche und Unbezahlbare“. (Vgl. Engster 2014, S.204)

Was also gilt nun: ist die Arbeitskraft „untrennbar mit einem unveräußerlichen und unverkäuflichen Körper verbunden“ oder ist sie „von ihm getrennt und rein als solche verhandelbar“? (Vgl. Engster 2014, S.202) Beides scheint mir nicht zusammenzugehen. Habermas unterscheidet zwischen einer symbolischen und einer materiellen Reproduktion der Gesellschaft, geht also irgendwie von einer Trennbarkeit beider Ebenen, der Personhaftigkeit und der Warenhaftigkeit des Menschen aus. (Vgl. meine Posts vom 15.01. und vom 17.01.2013) Aber letztlich erweist sich diese scheinbare Trennbarkeit doch als illusionär; denn es kommt schließlich doch zur „Kolonialisierung“, d.h. zur Verdrängung der symbolischen Reproduktion durch die materielle Reproduktion.

Wie also wird die Reproduktion der Ware Arbeitskraft durch den Lohn ‚berechnet‘? Gar nicht! Es ist letztlich eine Frage der Macht der Gewerkschaften, wie hoch der Lohn ausfällt. Alles andere ist Ideologie.

Wie kommt also der Mehrwert zustande? Wenn nicht unmittelbar durch Betrug, also durch Vertrauensmißbrauch (Stichwort ‚Kredit‘!) – und dieser scheint mir zumindestens ein Teil der Mehrwertbildung zu sein –, so doch einfach durch zusätzliche unbezahlte ‚Mehrarbeit‘. Bezahlt wird die Ware Arbeitskraft lediglich für die Selbsterhaltung, – wie auch immer betrugsförmig diese berechnet wird. Alles andere ist zusätzliche Arbeit, für die die Ware Arbeitskraft eben nicht bezahlt wird und die der Kapitalist letztlich nur mit dem Hinweis auf seine Risikobereitschaft für sich beanspruchen kann: er ist, wie der ‚Herr‘ bei Hegel, bereit, für den Gewinn zu ‚sterben‘.

Wie wir aber von Christina von Braun wissen, ist es letztlich egal, wer stirbt. Hauptsache irgendwer stirbt, und im Notfall kann der Herr bzw. der Kapitalist den Knecht opfern und stellvertretend für sich sterben lassen. (Vgl. meinen Post vom 15.12.2012) – „Der Kapitalist“, der „für den Tod“ steht (vgl. Engster 2014, S.290), muß nicht selber sterben.

Mehrwert beruht also, wie Engster an anderer Stelle schreibt, „in letzter Instanz auf ausgebeuteter zusätzlicher Arbeitszeit“. (Vgl. Engster 2014, S.228) Damit beruht der Mehrwert aber auf einer Lebensleistung, die über ihre bloße ‚Reproduktion‘ hinausgeht. Und damit wiederum beutet das Kapital einen Lebensbereich aus, der sich der Verwertung, also dem Rechnen des Geldes, prinzipiell entzieht. Der Betrug besteht darin, den Anschein zu erwecken, als könnte das Geld das Unbezahlbare berechnen; als könnte es die „zusätzliche Arbeitszeit“, also die aus dem Lohn als unbezahlbarer Rest herausfallende Lebensleistung des Arbeiters in sich aufnehmen und als könnte diese Lebensleistung sich „ohne das Geld nirgends aufhalten“. (Vgl. Engster 2014, S.228)

Damit aber ist alles das, dessen sich die Ware Arbeitskraft und der Kapitalist in ursprünglicher Akkumulation angeblich entledigt haben, um sich in reiner Immanenz und spekulativer Identität selbst zu verwerten – zeremonielle Gabe, Opfer, Schuld, Wucher, Kredit oder Zins (vgl. Engster 2014, S.269) –, wieder mit drin im Kapitalkreislauf. Es gäbe kein G-W-G', keinen Profit, gäbe es nicht das, was Habermas die symbolische Reproduktion nennt und was Christina von Braun als Kastration, Sublimation und Transsubstantiation beschreibt und als allgemeine Opfer- und Glaubensbereitschaft u.a. auf die christliche Religion zurückführt. (Vgl. meinen Post vom 25.11.2012)

Marx selbst beschreibt die Kastration als eine ‚innere Beschnittenheit‘, die den „Glauben“ an eine Fruchtbarkeit speist, die an die Stelle der biologischen Fruchtbarkeit tritt, „um aus Geld mehr Geld zu machen“. (Vgl. Engster 2014, S.376, Anm.94)  Zur Frage der ‚Reproduktion‘ der Ware Arbeitskraft und ihrer Entlohnung gehören deshalb auch Fragen des Werts und Unwerts im Zusammenhang einer biologischen Reproduktionsgerechtigkeit, mit denen sich Georg Reischel befaßt. (Vgl. Georg Reischel).

Die andere Quelle des Mehrwerts soll in der Steigerung der Produktivkraft liegen, die angeblich Arbeitszeit ‚spart‘: „Es gibt noch eine Bestimmung der Arbeit, die buchstäblich in ihrem Jenseits liegt. Sie betrifft die ersparte Arbeit, diejenige Arbeit, die nicht (mehr) für die Produktion einer Ware notwendig ist ... Diese ersparte Arbeitszeit wird durch die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit erreicht.“ (Engster 2014, S.212f.) – Die Ersparnis wird durch „Wissenschaft und Technik, Maschine und Industrie“ und durch „Digitalisierung, Programmierung und Informationsverarbeitung“ ermöglicht. (Vgl. Engster 2014, S.213) Es ist diese Steigerung der Produktivität, die zum eigentlichen gesellschaftlichen Überschuß führt und eine exzessive Ökonomie ermöglicht. (Vgl. Engster 2014, S.214 und S.264)

Aber irgendwie scheint mir diese zweite Quelle des Mehrwerts zur ersten Quelle des Mehrwerts in einem gewissen fatalen Widerspruch zu stehen. Wird der Mehrwert über das Verhältnis von lebendiger und toter Arbeitszeit bestimmt, letztlich aber mittels der zusätzlichen Arbeitsleistung des im Mißverhältnis zu den Reproduktionsnotwendigkeiten abgewerteten Lebens, kann auch kein Mehrwert dadurch entstehen, daß genau diese Arbeitszeit eingespart wird!

Aber auch wenn zugestanden wird, daß die technischen Produktionsmittel der menschlichen Lebensleistung entsprechen, führen sie letztlich auf genau denselben, schon beschriebenen Betrugszusammenhang zurück: bei ihrer Entwicklung und Entstehung sind Kosten entstanden, und diese müssen nun irgendwo wieder reingeholt und übertroffen werden. Dabei wird nicht etwa Arbeitszeit gespart, sondern es werden andere ‚wertlose‘ Wertquellen, die in die Berechnung nicht eingehen, angezapft. Auf die wertstabilisierende Funktion des Opfers in Form der vielen Arbeitslosen, deren Lebenszeit nun nichts mehr wert ist, ist hier schon mit Christina von Braun hingewiesen worden. Und da sind natürlich die vielen Konsumenten, die die maschinell produzierten Produkte kaufen. Auch sie ‚investieren‘ ihre Lebenszeit – nachdem ihre Bedürftigkeit durch Werbung und Erziehung (symbolische Reproduktion) subtil manipuliert wurde – in den Konsum von Produkten, die längst nicht mehr ihrer Lebenserhaltung dienen, sondern der möglichst ununterbrochenen Aufrechterhaltung der Produktion bzw. der Verhinderung einer ökonomischen Krise.

Damit kommt meine Erzählung von Herrschaft und Knechtschaft zu einem vorläufigen Ende, nicht aber die exzessive Vernutzung unserer Zeit im Hamsterrad der Ökonomie.

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